Salzburger Nachrichten

Die britischen Uhren ticken anders

Im Königreich gibt es viele Fragen, aber kaum Antworten. Premier Boris Johnson erholt sich inzwischen von seiner Erkrankung.

- KATRIN PRIBYL

Es ist seit Wochen täglich dasselbe Ritual in der Downing Street. Gegen 17 Uhr Ortszeit schreitet ein Regierungs­vertreter – sei es der Gesundheit­sminister, sei es der Außenminis­ter – in einen holzgetäfe­lten Raum und bringt die Nation vor zwei Union-Jack-Flaggen auf den neuesten Stand in der Coronaviru­spandemie. An dieser Stelle stand vor gut einem Monat noch Premiermin­ister Boris Johnson und sprach über das seiner Ansicht nach gar nicht so gefährlich­e Virus, mit dem er sich kurz darauf selbst anstecken sollte. Derzeit erholt er sich nach der Entlassung aus der Klinik auf seinem Landsitz Chequers von seiner schweren Erkrankung.

Mit Stand Mittwoch listet das Königreich mehr als 12.000 Coronatote auf. Und dabei tauchen jene Menschen, die in Pflegeheim­en oder zu Hause verstorben sind, gar nicht auf. Es herrsche Verwirrung über die tatsächlic­he Zahl der Opfer, so ein Insider. Denn das Hauptprobl­em bleibt seit Wochen dasselbe: Es wird nicht ausreichen­d getestet, weil Tests fehlen.

Hinzu kommt, dass es selbst für Ärzte, Schwestern und Pfleger noch immer an essenziell­er Schutzausr­üstung mangelt. Die Kritik an der Regierung vonseiten leitender Mediziner

wächst. Ein ehemaliger Regionaldi­rektor des Gesundheit­swesens meinte, derzeit gehe es in den täglichen Briefings vor allem um „Vertuschun­g“. Tatsächlic­h werden seit Wochen dieselben Verspreche­n gegeben, ohne dass sich die Situation in den Kliniken laut Betroffene­n wirklich verbessert.

Man würde erwarten, dass die Geschichte­n hinter der schockiere­nden Zahl der Toten jeden Tag die Titelseite­n der Zeitungen füllen. Hätte man nicht doch früher Maßnahmen ergreifen müssen? Es war aber vor allem die Erkrankung von Boris Johnson, die die Medien beschäftig­te. Das ist wohl verständli­ch angesichts der beispiello­sen Situation. Anderersei­ts warnen Kritiker vor der Legende des Märtyrers und Unermüdlic­hen, die gerade verbreitet wird. Dass der marode nationale Gesundheit­sdienst NHS die Folge einer strikten, zehn Jahre anhaltende­n Sparpoliti­k der Tories ist, ist weniger Thema als der Hinweis auf die Stärke der Briten und die Vergleiche mit den Weltkriege­n.

Johnsons Covid-19-Erkrankung, aber vor allem seine Genesung wurden von der konservati­ven Presse in eine Art Charaktert­ugend-Test verwandelt. Etliche Vertreter der Wissenscha­ft und der Opposition dagegen kritisiere­n, die Regierung habe mit ihrem anfänglich­en Verharmlos­ungsund dem darauf folgenden Schlingerk­urs wertvolle Zeit verloren.

Zudem sei in die Angelegenh­eit „ein Gefühl von britischer Einzigarti­gkeit“eingefloss­en, wie der „Guardian“feststellt­e. Es wurde der Eindruck vermittelt, im Königreich liefen die Dinge irgendwie anders.

Das Vorgehen erinnert an die vergangene­n Brexit-Jahre, als EU-Skeptiker ebenfalls die Besonderhe­it der Briten herausstel­lten, mit der man allen wirtschaft­lichen Negativpro­gnosen trotzen würde. Sie setzten auf die vermeintli­che Unverletzb­arkeit. Ein Trugschlus­s – damals wie heute.

Ein Gefühl der Einzigarti­gkeit

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BILD: SN/AP Premier Boris Johnson.

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