Die britischen Uhren ticken anders
Im Königreich gibt es viele Fragen, aber kaum Antworten. Premier Boris Johnson erholt sich inzwischen von seiner Erkrankung.
Es ist seit Wochen täglich dasselbe Ritual in der Downing Street. Gegen 17 Uhr Ortszeit schreitet ein Regierungsvertreter – sei es der Gesundheitsminister, sei es der Außenminister – in einen holzgetäfelten Raum und bringt die Nation vor zwei Union-Jack-Flaggen auf den neuesten Stand in der Coronaviruspandemie. An dieser Stelle stand vor gut einem Monat noch Premierminister Boris Johnson und sprach über das seiner Ansicht nach gar nicht so gefährliche Virus, mit dem er sich kurz darauf selbst anstecken sollte. Derzeit erholt er sich nach der Entlassung aus der Klinik auf seinem Landsitz Chequers von seiner schweren Erkrankung.
Mit Stand Mittwoch listet das Königreich mehr als 12.000 Coronatote auf. Und dabei tauchen jene Menschen, die in Pflegeheimen oder zu Hause verstorben sind, gar nicht auf. Es herrsche Verwirrung über die tatsächliche Zahl der Opfer, so ein Insider. Denn das Hauptproblem bleibt seit Wochen dasselbe: Es wird nicht ausreichend getestet, weil Tests fehlen.
Hinzu kommt, dass es selbst für Ärzte, Schwestern und Pfleger noch immer an essenzieller Schutzausrüstung mangelt. Die Kritik an der Regierung vonseiten leitender Mediziner
wächst. Ein ehemaliger Regionaldirektor des Gesundheitswesens meinte, derzeit gehe es in den täglichen Briefings vor allem um „Vertuschung“. Tatsächlich werden seit Wochen dieselben Versprechen gegeben, ohne dass sich die Situation in den Kliniken laut Betroffenen wirklich verbessert.
Man würde erwarten, dass die Geschichten hinter der schockierenden Zahl der Toten jeden Tag die Titelseiten der Zeitungen füllen. Hätte man nicht doch früher Maßnahmen ergreifen müssen? Es war aber vor allem die Erkrankung von Boris Johnson, die die Medien beschäftigte. Das ist wohl verständlich angesichts der beispiellosen Situation. Andererseits warnen Kritiker vor der Legende des Märtyrers und Unermüdlichen, die gerade verbreitet wird. Dass der marode nationale Gesundheitsdienst NHS die Folge einer strikten, zehn Jahre anhaltenden Sparpolitik der Tories ist, ist weniger Thema als der Hinweis auf die Stärke der Briten und die Vergleiche mit den Weltkriegen.
Johnsons Covid-19-Erkrankung, aber vor allem seine Genesung wurden von der konservativen Presse in eine Art Charaktertugend-Test verwandelt. Etliche Vertreter der Wissenschaft und der Opposition dagegen kritisieren, die Regierung habe mit ihrem anfänglichen Verharmlosungsund dem darauf folgenden Schlingerkurs wertvolle Zeit verloren.
Zudem sei in die Angelegenheit „ein Gefühl von britischer Einzigartigkeit“eingeflossen, wie der „Guardian“feststellte. Es wurde der Eindruck vermittelt, im Königreich liefen die Dinge irgendwie anders.
Das Vorgehen erinnert an die vergangenen Brexit-Jahre, als EU-Skeptiker ebenfalls die Besonderheit der Briten herausstellten, mit der man allen wirtschaftlichen Negativprognosen trotzen würde. Sie setzten auf die vermeintliche Unverletzbarkeit. Ein Trugschluss – damals wie heute.
Ein Gefühl der Einzigartigkeit