Festspieljubiläum braucht frische Ideen
Die Salzburger Festspiele werden infolge des Coronavirus in ähnliche Umstände katapultiert wie zu ihrem Anfang.
Die Stadt wird zur Bühne, gespielt wird im Freien
Noch sind es drei Monate bis zum geplanten Beginn der Salzburger Festspiele am 18. Juli. Doch einiges deutet darauf hin, dass diese nicht so stattfinden werden, wie es im 172-seitigen Programmbuch aufgefächert ist. Wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Ostern allen Europäern geraten hat, noch keine Sommerurlaube zu buchen, bestätigt dies die Bange: Wenn Festspiele in Salzburg angesagt wären, könnten Reisen noch nicht so unbeschwert möglich sein wie bis 16. März.
Die einhergehende Katastrophe für den Festspielsommer lässt sich ausmalen: Schlimmstenfalls kann weder ein Chor noch ein Orchester anreisen, nicht einmal die Wiener Philharmoniker. Gleiches gilt für viele Dirigenten, Sänger, Solisten, Bühnentechniker und Mitarbeiter in Werkstätten. Bevor man also befürchten muss, dass Besucher ausbleiben, immerhin kam das Publikum im Vorjahr aus 78 Ländern, könnten nicht einmal Proben loslegen.
Zur Reisebeschränkung drohen weitere dicke Knüppel: Das Veranstaltungsverbot wird für Großereignisse – wie in Festspielhäusern – und schon gar für geschlossene Räume bleiben. Das Ausgehverbot, für das jetzt nur vier Ausnahmen (Einkaufen, Arbeiten, Helfen und Spazieren) gelten, könnte bis Juni oder Juli nur vereinzelt gelockert werden, um die Covid-19Kurve weiterhin flach zu halten. Folglich könnten die Salzburger Festspiele – mit ihnen Hotellerie und Gastronomie – im Auge des AntiCorona-Orkans festsitzen.
Es ist, als würden sie im Jubiläum von ihrer Gründung eingeholt. 1920 waren die Umstände ähnlich, wenngleich noch grimmiger – nach einem Weltkrieg und nach Hungerrevolten, also ohne volle Supermärkte. Damals sollten Touristen wegen Knappheit an Lebensmitteln fernbleiben: 1919 beschloss der Gemeinderat, „alle nötigen Maßnahmen sofort zu treffen, welche geeignet sind, den in kürzester Zeit einsetzenden Fremdenverkehr (...) einzustellen“. Im August 1919 beschloss der damalige Landesrat, wegen der Hungersnot keine Aufenthaltsgenehmigungen zu erteilen. Max Reinhardt ließ sich davon nicht abhalten. Während andere Exponenten der Salzburger Festspielhausgemeinde auf regulären Aufführungen in einem noch zu bauenden Haus beharrten, begann er andere als übliche Festspiele: Er erklärte die Stadt zur Bühne und spielte im Freien.
100 Jahre später könnte dies wieder helfen. Denn schon ein leises Lüfterl im himmelweit offenen Raum vereitelt den Sprung der Viren. Stellen wir uns etwa die Festspielnächte auf dem Kapitelplatz vor: Mangels Touristenmassen genügt es, mit 500 Leuten zu rechnen. Für die ist sogar samt Abstand genug Platz. Vielleicht
wären auch Wein- und Imbissbars und andere kulinarische Ergötzungen möglich.
Und wie wäre ein zweiter FestspielnächteStandort für Schauspiel? Ein dritter, nur als Audio, für Konzerte? In Archiven liegen viele historische Aufzeichnungen, die soeben für die Landesausstellung aufbereitet werden. Welch ausführliches, gemeinsames Erleben von Festspielgeschichte tut sich da zum Jubiläum auf! Und was noch alles wäre möglich über Streaming oder eine innovative Festspiel-App?
Der „Jedermann“darf vermutlich auch auf dem Domplatz nicht für so großes Publikum gespielt werden wie in Vor-Corona-Jahren.
Aber so viele Zuschauer wie 1920 würden auf der jetzigen Tribüne auch mit Abstand leicht Platz finden; die als Spezialedition verkauften „Jedermann“-Masken fürs Publikum würden Kultstücke. Vielleicht könnten die Darsteller vor Probenbeginn vierzehn Tage in Quarantäne verbringen und sich dann – wie systemrelevante Teams in Elektrizitätswerken – in Probenund Aufführungszeit nur auf den Domplatz und das einzig für sie reservierte Hotel beschränken? Dann könnte Jedermann die Buhlschaft sogar bühnentechnisch küssen!
Freiluft-Ideen lassen sich auch an das einstige Fest in Hellbrunn anknüpfen: Darbietungen an vielen Stationen rund ums Lustschloss für ein Publikum in kleinen Gruppen und in eigens designten manieristischen HellbrunnMasken? Ebenso könnte das Barockfest des Domquartiers auf Plätze der Altstadt verlegt werden. Und gar: Serenaden im Residenzhof! Die könnten so berühmt werden wie jene von Bernhard Paumgartner in den 50er-Jahren. Regen? Weil das Leben zugunsten der flachen Covid-19-Kurve ruhiger geworden ist, wäre bei Schlechtwetter das Barockfest auf einen Zweittermin zu verschieben. Und ab und zu eine Absage hinzunehmen ist weniger arg, als in
Schockstarre zu verharren. Sowieso, weil eh wetterfest, sollten die für 2020 zum Thema „Traum von einem Feentempel“in Auftrag gegebenen Kunstwerke zu geplanten, doch nie gebauten Festspielhäusern realisiert werden.
Solche Festspiele wären von und für möglichst viele Österreicher, vielleicht auch für einige reisefreudige Nachbarn, aber vermutlich großteils von und für Salzburger.
Mozarteumorchester und Bachchor sind sowieso da. Vielleicht könnte die Camerata einen Teil ihrer Einbußen von abgesagten Tourneen wettmachen? Vielleicht bekäme Anna Netrebko eine Ausnahmegenehmigung für einen Soloauftritt?
Sollten die Bundesmuseen am 1. Juli wieder öffnen, könnten auch die fürs Festspieljubiläum konzipierten Ausstellungen in Domquartier und Salzburg Museum anheben. Beide könnten bis in den Sommer 2021 verlängert werden, wenn hoffentlich das für heuer geplante Musik-und Theaterprogramm nachgeholt wird.
Infolge der Pandemie werden übliche Salzburger Festspiele heuer nicht möglich. Aber wenn wir Mut, Fantasie und Begeisterung walten lassen und – so wie 1920 oder 1945 – einen Festspielsommer komplett neu andenken, tun sich herrliche Optionen auf. Österreich könnte beweisen, dass Salzburger Festspiele nicht allein Luxus und Rekordeinnahmenbringer, sondern auch das sind, als das Max Reinhardt sie bezeichnet hat: Lebensmittel. Die Kunst habe sich „in den Stürmen dieses Krieges“behauptet und ihre Pflege habe sich „geradezu als unumgängliche Notwendigkeit erwiesen“, schrieb er 1917. „Die Welt des Scheines, die man sich durch die furchtbare Wirklichkeit dieser Tage ursprünglich aus allen Angeln gehoben dachte, ist völlig unversehrt geblieben, sie ist eine Zuflucht geworden.“Im Sommer 2020 könnten wir diese Erkenntnis neu aufladen.