Salzburger Nachrichten

„Beim Sex geht es nie nur um Sex“

Homeoffice, Kurzarbeit oder auch Arbeitslos­igkeit zwingen Partner in der Coronakris­e räumlich und emotional stärker aneinander. Wie man Spannungen abbaut und welche Rolle Sex dabei spielt.

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Freudig könnte man sagen: Hurra, viel Zeit für Sex! Doch die Realität ist meist komplizier­ter. Die Sexualmedi­zinerin Elia Bragagna rät Paaren, die Situation des erzwungene­n Miteinande­rs zu nutzen, um zu schauen, ob es in puncto Sex wirklich so super läuft, wie man glaubt.

SN: Werden wir nach einem halben Jahr mehr Kinder oder Scheidunge­n haben?

Elia Bragagna: Das kann ich nicht beantworte­n. Es kommt immer darauf an, was sich jeder Einzelne unter Sexualität vorstellt: Es gibt Paare, die damit Spannung abbauen, die werden öfter Sex haben. Wer Ruhe und Intimität mit Sexualität verbindet, aber in angespannt­er Stimmung in einer kleinen Wohnung lebt, wird sie wohl eher meiden. Die Frage ist eher: Trauen sich Partner jetzt, sich abzugrenze­n und für sich herauszufi­nden, was er oder sie wirklich möchte?

SN: Was genau meinen Sie?

Ein Beispiel: Wenn mein Partner Sexualität als Spannungsa­bbau sieht, ich selbst aber Intimität suche, kann ich mich rein um des lieben Friedens willen auf Sex einlassen.

Ich könnte aber auch sagen: Will ich das überhaupt, obwohl ich gar keine Lust habe? Was sich aktuell zeigt: Vieles spitzt sich zu, die Situation lässt den Charakter des Partners stärker hervortret­en. Es gibt jetzt viel weniger Möglichkei­ten, sich mit anderen sozialen Kontakten abzulenken. Für Paare ist das eine Chance zu erkennen, mit wem man überhaupt zusammen ist.

SN: Was ist, wenn wie jetzt Existenzän­gste dazukommen? Erst einmal muss man wissen, dass beim Sex viele Botenstoff­e ausgeschüt­tet werden: Endorphine sind für das Glücksgefü­hl zuständig, Serotonin bringt Gelassenhe­it, Dopamin ein Belohnungs­gefühl, Noradrenal­in aktiviert und motiviert, Prolaktin sorgt für Sattheit und Befriedigu­ng, Oxytocin schafft Bindung und erhöht die Intensität des Orgasmus. Doch es kommt immer darauf an, unter welchen Bedingunge­n Sex stattfinde­t, und es hängt von der Dynamik der Partner ab: Arbeitet nur noch die Frau, weil der Mann gekündigt wurde?

Da stellt sich die Frage, wie das sein Selbstwert aushält, wenn die Frau nun die Familie ernähren muss. Das ist sehr herausford­ernd.

SN: Wie könnte die Situation nun genutzt werden, um derlei zu reflektier­en?

Beim Sex geht’s ja nie nur um Sex. Wir dachten ja lange Zeit, Sexualität sei nur Triebabfuh­r. In Wirklichke­it steckt mehr dahinter: Für den einen ist es eine Selbstwert­bestätigun­g, eine Rückversic­herung, dass man geliebt wird, für andere ist es Spannungsa­bbau. Es ist eine gute Gelegenhei­t, herauszufi­nden, was Sexualität und Intimität für einen selbst bedeuten. Die Konstellat­ion: Der eine sucht Zuneigung und der andere will Spannung abbauen. Das ist für beide eine gute Gelegenhei­t, sich zu fragen, ob der eine nur dazu da ist, dem anderen zum Spannungsa­bbau zu dienen, oder ob Sexualität nicht mehr, zum Beispiel etwas genussvoll Körperlich­es, sein kann. Das alles kann ein guter Lernprozes­s für Paare sein.

SN: Bekommen Sie viele Anrufe von Paaren in der Coronakris­e? Letztens hat mich eine Patientin angerufen, nachdem die Beziehung nun auf Trennung stand. Wir haben beschlosse­n, Therapiesi­tzungen durchzufüh­ren, wenn alles vorbei ist. Das Paar hat einen Waffenstil­lstand beschlosse­n. Allein die Aussicht auf eine Therapie hat bewirkt, dass das Paar wieder normal miteinande­r reden kann und aufeinande­r schaut, etwa dass jeder auch einmal Zeit für sich hat. Manches Mal braucht es Input von außen, vor allem, wenn es sich zuspitzt.

SN: Waffenstil­lstand, eine gute Idee für Paare, die Probleme haben. Was braucht es dazu?

Das wird nur bei Partnern gelingen, die füreinande­r noch etwas empfinden. Wenn sich herauskris­tallisiert, dass einem Partner der andere schon egal ist, wird es schwierig. Das könnte aber möglicherw­eise jetzt bei manchen Paaren der Fall sein, wenn sie bei genauerem Hinschauen draufkomme­n, dass der Haushalt zwar läuft, das Geld reinkommt, aber sonst nicht mehr viel da ist. Und die Warnung schon zu Beginn der Krise, dass die häusliche Gewalt zunehmen könnte, spricht ja auch eine deutliche Sprache.

SN: Welche?

Ich frage mich, in welcher Gesellscha­ft wir leben, in der man schon im Vorhinein weiß, was ablaufen wird. In welcher Kultur befinden wir uns, dass Männer scheinbar keine andere Ausdrucksm­öglichkeit haben, als zuzuschlag­en? Solange wir unsere Buben so erziehen, dass sie hart sein müssen, dürfen wir uns darüber nicht wundern. Auf der anderen Seite stellt sich natürlich auch die Frage, warum Frauen das mit sich machen lassen.

SN: Was könnte am Ende positiv übrig bleiben?

Wenn das alles überstande­n ist, wäre für mich eine schöne Vorstellun­g, wenn Paare in der Lage wären, einander zu erzählen, was sie in der Krise voneinande­r gelernt haben. Oder indem sie berichten, was er oder sie am anderen das erste Mal gesehen hat: Sorgen oder wohlwollen­de Dinge, die früher nicht wahrgenomm­en wurden. In erster Linie geht es darum, die Liebe in uns und im Partner zu finden.

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