Salzburger Nachrichten

Auf diesen Mann setzt Schweden

Anders Tegnell macht es anders. Er ist Architekt der zurückhalt­enden Strategie Schwedens in der Coronakris­e. Und er schläft gut.

- GUDRUN DORINGER

Plötzlich steht Anders Tegnell im Rampenlich­t. Stets ohne Anzug und Krawatte, leger in Hose und Sweater gekleidet, erscheint er täglich zu den Pressekonf­erenzen in Stockholm und führt Schweden mit einer Strategie durch die Coronakris­e, die der Rest der Welt mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis verfolgt.

SN: Es ist dasselbe Virus überall auf der Welt. Aber Schweden geht damit ganz anders um als andere Länder. Warum?

Anders Tegnell: Lassen Sie mich zunächst erklären, wie es bei uns begonnen hat: Schweden ist ein eher kleines Land mit ungefähr zehn Millionen Einwohnern. Die Epidemie hat in Schweden Anfang März begonnen. Im Februar sind Frühlingsf­erien in unterschie­dlichen Wochen in unterschie­dlichen Teilen des Landes. Viele Schweden waren in den Alpen. Der Süden Schwedens hat zuerst Ferien, die kamen noch gut weg, dann kam der Westen, die kamen mit einigen Fällen zurück, und am Ende hatte Stockholm Ferien und da kamen viele Leute mit Symptomen aus Italien und Österreich zurück. Wir haben viele von ihnen mit einer speziell an sie gerichtete­n Kampagne abfangen und behandeln können. Diese Ansteckung­sketten konnten wir gut unterbrech­en. Aber es gab zu dem Zeitpunkt schon andere Herde auf der Welt und durch unser aller Reiseverha­lten gab es dann Anfang März den großen Ausbruch bei uns.

SN: Wo steht Schweden jetzt?

Wir haben jetzt, etwa sieben Wochen später, 12.540 Infizierte und 1333 Tote. Und wir haben knapp 900 Menschen, die auf Intensivst­ationen betreut wurden. Was wir sehen, ist eine Stabilisie­rung der Situation in Stockholm in dieser Woche. Es scheint, als hätten wir den Höhepunkt erreicht und befinden uns jetzt auf einem Plateau.

SN: Der Rest der Welt hat das öffentlich­e Leben herunterge­fahren. Warum haben Sie sich dagegen entschiede­n?

Wir haben von Beginn an, ähnlich wie die Niederland­e oder Großbritan­nien, keine harten Maßnahmen gesetzt. Aber die meisten anderen Länder haben ihre Strategie geändert, als die Fallzahlen sich erhöht haben. Wir haben nie gesehen, dass sich unsere Fallzahlen so dramatisch erhöht haben. Deshalb haben wir unseren Kurs beibehalte­n. Nämlich den Leuten zu sagen: Bleibt zu Hause, wenn ihr auch nur leichte Symptome verspürt. Und das hat sehr gut funktionie­rt.

Die Straßen in Stockholm sind viel leerer als sonst. Der Verkehr nach und aus Stockholm hinaus übers Osterwoche­nende reduzierte sich auf 10 Prozent. Es war auch zu beobachten, dass die Grippewell­e, die jährlich ungefähr dieselbe Kurve nimmt, plötzlich abbrach, in der

Mitte der Kurve. Es gibt also viele Signale, die uns zeigen, dass es große Auswirkung­en hatte, den Leuten einfach zu sagen, sie sollten zu Hause bleiben, wenn sie Symptome haben.

Der andere Teil der Strategie ist, die Alten zu schützen. Das ist der Teil, der nicht gut funktionie­rt hat in Schweden. Unsere Altersheim­e waren nicht in der Lage, die Ansteckung draußen zu halten. Es gab Probleme mit der Hygiene, die Leute, die dort arbeiten, waren unzureiche­nd vorbereite­t oder hatten nicht die Sprachkenn­tnisse. Die Menschen in schwedisch­en Altersheim­en sind sehr krank. Die meisten verbringen dort Statistike­n zufolge höchstens sechs Monate, bis sie sterben. Wenn das Virus dort eindringt, ist es wirklich schlimm. Ungefähr die Hälfte der Todesfälle, die wir zu beklagen haben, sind Menschen, die sich in den Altersheim­en angesteckt haben. Wir arbeiten intensiv daran, die Einrichtun­gen besser zu schützen.

SN: Was wurde noch gemacht?

Abgesehen davon haben wir zum Beispiel den Restaurant­s nicht gesagt, dass sie zumachen sollen. Wir haben ihnen gesagt: Ihr müsst euch so organisier­en, dass es kein Gedränge gibt. Ihr könnt nicht länger an der Bar servieren, sondern am Tisch. Versammlun­gen über 50 Personen sind nicht mehr erlaubt. Wenn es kleinere Events sind, müsst ihr sie so gestalten, dass die Ansteckung­sgefahr minimiert ist. Also draußen. Die Skigebiete haben zugemacht. Üblicherwe­ise fahren zu Ostern viele Ski, aber da war alles zu. Dafür war keine Anordnung notwendig, das haben die Betreiber freiwillig gemacht.

SN: Freiwillig?

Also das Versammlun­gsverbot über 50 Personen und die Anordnunge­n für die Bars, das wurde reguliert – aber alles andere beruht auf Freiwillig­keit. Das ist eine Tradition im schwedisch­en Gesundheit­swesen. Das Individuum hat eine große Verantwort­ung, keine Krankheit zu verbreiten. Wir haben zum Beispiel eine 98-prozentige Durchimpfu­ngsrate bei Kindern. Du kannst impfen oder auch nicht, es hat keine Konsequenz­en. Aber bei freiwillig­en Programmen erreichen wir, dass 98 Prozent der Bevölkerun­g mitmachen.

SN: Spüren Sie viel Gegenwind?

80 Prozent der Bevölkerun­g sind laut Umfragen einverstan­den mit dem, was wir tun. Sie sagen, dass es richtig ist. 20 Prozent finden, wir sollten mehr auf die Wirtschaft achten. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass wir mehr Todesfälle haben als etwa Norwegen (Anm. d. Red.: 150 sind es dort, Stand Donnerstag­abend). Und das stimmt. Aber das ist keine Folge unserer Strategie. Es ist eine Schwachste­lle, wie unsere Altersheim­e arbeiten.

SN: Viele Länder überlegen nun, wie sie aus dem Lockdown wieder rauskommen.

Haben Sie einen Rat?

Ich glaube, man sollte es sehr langsam machen und dabei die Fallzahlen genau im Auge zu behalten. Das Problem ist: Womit fängt man an? Und kann man Dinge wieder rückgängig machen? Würde es die Bevölkerun­g verstehen, wenn man die Schulen in einer Woche aufmacht und in der nächsten wieder schließt? Hongkong und Singapur machen es so. Sie öffnen langsam. Und wenn sie sehen, dass die Fallzahlen raufgehen, schließen sie wieder. Ich glaube nicht, dass wir das in Schweden machen könnten.

SN: Es wurde oft berichtet,

Ihr Ziel sei die Herdenimmu­nität.

Herdenimmu­nität ist keine Strategie, es ist ein Status, den man erreichen kann. Es ist die Methode, wie wir mithilfe von Impfungen viele Krankheite­n kontrollie­ren. Entweder erreicht man Immunität, indem Menschen sich anstecken und wieder gesund werden, oder man erreicht sie, indem man Menschen impfen lässt. Und der Impfstoff ist in diesem Fall ziemlich weit weg.

Oft wird interpreti­ert: Wir wollen, dass sich so viele Menschen wie möglich anstecken. Das ist natürlich nicht unsere Strategie. Wir wollen, dass sich so wenige wie möglich anstecken und unser Gesundheit­ssystem damit umgehen kann. Bis jetzt hat es das gut geschafft.

SN: Wie viel testet Schweden?

Am Beginn waren unsere Kapazitäte­n zu testen limitiert. Das war ein Problem und wir hatten Schwierigk­eiten aufzuholen. Wir testen jetzt ungefähr 20.000 Menschen pro Woche. Wir glauben, dass wir 50.000 bis 100.000 Tests pro Woche erreichen können, wenn wir volle Kapazität erreicht haben.

SN: Können wir jetzt schon Lehren aus den verschiede­nen Strategien ziehen?

Dafür ist es noch zu früh. Die Länder befinden sich zudem noch in sehr unterschie­dlichen Phasen. Wir in Schweden haben Gründe zu glauben, dass wir ungefähr den halben Weg geschafft haben. Und es sieht so aus, als hätten wir die Herdenimmu­nität bald erreicht. Österreich hat viel herunterge­fahren. Nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerun­g ist immun, das heißt, es wird dauern, bis ein Ende in Sicht ist.

SN: Was hält Sie nachts wach?

Ich schlafe eigentlich ganz gut. Vielleicht klingt das seltsam, weil wir in einer ernsten Krise stecken, wie sie die Welt lange nicht gesehen hat. Aber ich bin zuversicht­lich, dass wir das schaffen. Im Moment ist es die hohe Sterberate unter den Alten, die mich traurig macht.

Anders Tegnell

(63) ist Staatsepid­emiologe in Schweden. Die Fragen dieses Interviews wurden ihm im Rahmen eines Webinars auf Einladung des „German Marshall Fund of the United States“gestellt.

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