„Jetzt wird die Ungleichheit verstärkt“
In der ersten Phase einer Epidemie sind alle Menschen gleich. Das ändert sich dann.
Elisabeth O. ist 80 Jahre alt, sie lebt allein, war immer aktiv und kann sich gut selbst versorgen. Sie hat eine Vorerkrankung und gehört derzeit damit zur Risikogruppe, die vor dem Coronavirus besonders geschützt werden soll. Sie hält die geltenden Maßnahmen für vernünftig, und doch fragt sie sich zunehmend, was ihr vom Leben noch bleibt. „Ich habe vielleicht nicht mehr lang zu leben. Wie wird dieser Rest für mich angesichts aller Einschränkungen ausschauen? Ich soll zum Beispiel körperlich fit bleiben, soll aber nur zu Spaziergängen hinausgehen und Gymnastik daheim machen. Das reicht in dem Alter nicht aus“, sagt sie.
Vor dem Coronavirus sind alle gleich. Dieser Satz stimmt und stimmt zugleich nicht. Wie jedes extreme Ereignis wirft eine Pandemie ein Licht auf soziale Phänomene.
Franz Kolland ist Soziologe und Altersforscher. Er war wissenschaftlicher Leiter des LudwigBoltzmannInstituts für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung und leitet heute das Department Allgemeine Gesundheitsstudien, Kompetenzzentrum Gerontologie und Gesundheitsforschung der Karl-Landsteiner-Privatuniversität sowie den Masterstudiengang „Gerontologie und soziale Innovation“der Universität Wien.
„Die These von der egalisierenden Wirkung von Epidemien wird seit Längerem in der Wissenschaft diskutiert. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es in der Geschichte dafür Belege gibt, dass in solchen Fällen alle Menschen gleich betroffen sind“, sagt er. Das betreffe zumindest jene erste Phase, in der eine Krankheit ausbreche. Doch in weiteren Phasen zeige sich, dass nicht alle Menschen gleich betroffen seien. „Aus der Ungleichheitsforschung wissen wir, dass es immer jemanden gibt, der mittelfristig und langfristig stärker betroffen ist, meist in Abstufungen. Ein SchwarzWeiß-Schema gibt es nicht. Nicht immer sind das die klassisch benachteiligten Gruppen“, erklärt Franz Kolland.
In der Coronakrise sei ein Punkt der Ungleichheit das Alter. Alte Menschen erkrankten häufiger, nicht nur weil sie alt seien, sondern weil sie Vorerkrankungen hätten, die mit ungünstigen sozialen Verhältnissen zu tun hätten. Diabetes und Bluthochdruck etwa hätten nicht nur, aber auch mit dem Lebensstil zu tun, mit mangelnder Bildung,
mangelndem Einkommen, schlechter Ernährung. Faktoren also, denen Menschen ausgesetzt seien, die sozial schlechtergestellt seien. Alte Menschen würden jetzt zusätzlich benachteiligt, weil sie noch mehr als andere Altersgruppen von sozialen Kontakten und Aktivitäten ausgeschlossen seien.
Einem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt seien derzeit auch
Menschen, die in bestimmten Branchen arbeiteten, etwa in der Pflege oder in den Supermärkten.
„Doch die Ungleichheit betrifft auch die Kinder, die derzeit zu Hause unterrichtet werden müssen. Kinder, die in Familien betreut werden, in denen Eltern nicht gut Deutsch können oder das erforderliche Wissen nicht haben oder schlecht mit Internet ausgerüstet sind oder in beengten Wohnverhältnisse leben, diese Kinder haben ganz klar Nachteile. Wir wissen aus der Forschung über das Lernen in den Sommerferien, dass Kinder aus Familien, in denen die Betreuung gut gewährleistet werden kann, mehr Kompetenzen haben als andere. Schule hat in dieser Hinsicht die wichtige Funktion, Gleichheit herzustellen“, sagt Franz Kolland. Betroffen von der Krise seien zudem in hohem Ausmaß psychisch kranke Menschen, die mit den zusätzlichen Belastungen noch schlechter fertig würden.
Internationale Forscher haben in der vergangenen Woche im Fachjournal „Jama“davor gewarnt, dass durch die Pandemie eine erhebliche Zunahme von Depressionen und Angstzuständen, von Substanzmissbrauch, Einsamkeit und häuslicher Gewalt drohe.
Franz Kolland kritisiert, dass in die derzeitigen politischen Entscheidungsprozesse die Sozialwissenschaften nicht eingebunden würden. Je länger Einschränkungen dauerten, desto mehr müsse man auf die sozialen Folgen für die belastenden Gruppen schauen und dann die Maßnahmen anpassen. „Eine gute Maßnahme war, den öffentlichen Raum wieder mehr zu öffnen. Ich plädiere auch dafür, über eine frühere Öffnung der Schulen nachzudenken. Man sollte vielleicht auch weniger auf das kalendarische Alter schauen. Es kann nicht sein, dass Menschen, die älter als 60 Jahre sind, sich rechtfertigen müssen, wenn sie wo hingehen. Das ist bedenklich. Wir können ältere Menschen auch nicht ins Haus verbannen bis es einen Impfstoff gibt.“
Kein oder kaum Kontakt zwischen Großeltern und Enkeln sei zudem eine der größten Einschränkungen. Neben der kognitiven und körperlichen Bewegung zählten die sozialen Kontakte zu den wichtigsten Säulen des erfolgreichen Alterns. „Jahrzehntelang haben wir das aktive Altern propagiert und nun bricht das alles weg. Jüngere Menschen können sich die Auswirkungen kaum vorstellen. Wir müssen deshalb verstärkt auf die älteren Menschen schauen.“Auch ohne Coronavirus gehe man in der Forschung von acht bis zwölf Prozent älterer Menschen aus, die einsam seien.
„Wir müssen genau hinschauen.“