Salzburger Nachrichten

Der Bedarf an Freiraum in Städten wird deutlich wachsen

Die Beschränku­ngen in der Coronakris­e decken Mängel und Versäumnis­se in der Stadtentwi­cklung schonungsl­os auf.

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Die rasante Ausbreitun­g von SARS-CoV-2 in Österreich hat dramatisch­e Einschnitt­e in allen Lebensbere­ichen nach sich gezogen. Die Gebote der Stunde heißen „Social Distancing“, also Abstand zueinander halten, sowie daheim bleiben und nur rausgehen, wenn unbedingt notwendig. Das ist vor allem dort problemati­sch, wo es von Haus aus eng ist: in der Stadt.

Etwa in Wien mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern wird sich in diesem Sommer zeigen, woran es in puncto Lebensqual­ität hapert. Denn spätestens wenn die erste Hitzewelle über die Metropole rollt, werden Corona- und Klimakrise zu einem Megathema verschmelz­en. Wie also schafft man gleichzeit­ig Platz und kühlt die Stadt? Wohin mit all den überhitzte­n Seelen, wenn – was derzeit durchaus denkbar ist – nicht einmal die Freibäder aufsperren dürfen?

„Das Problem sind ja nicht nur die Tage, sondern zunehmend die Nächte, weil es da nicht mehr abkühlt“, gibt die Architekti­n Verena Mörkl, die gemeinsam mit ihrem

Ehemann Christoph das Architektu­rbüro Superblock in Wien betreibt, zu bedenken. Sie nennt zwei Grundvorau­ssetzungen für eine Steigerung der Lebensqual­ität in der Stadt: weniger Autos und die Entsiegelu­ng der Böden.

„Wir haben nicht zu wenig Platz, wir nutzen ihn nur falsch“, ist Thomas

Madreiter, Planungsdi­rektor der Stadt Wien, überzeugt. In den nächsten 30 bis 40 Jahren erwartet er „ganz massive Veränderun­gen“in der urbanen Mobilität. Architekti­n Verena Mörkl warnt: „Man darf nicht das Autofahren unattrakti­ver, man muss Alternativ­en attraktive­r machen.“Radwege zum Beispiel. Christoph Mörkl ergänzt: „Es ist ja nicht das fahrende Auto das Problem, sondern das geparkte.“Sein Einwand: „Auch ein Elektroaut­o braucht Platz.“

Was die Großstadt der Zukunft betrifft, so rät Stadtentwi­ckler Madreiter zu einem erweiterte­n Blickwinke­l und nennt als Beispiel die sogenannte­n Klimazwill­inge: „Wien wird in 30 Jahren im Idealfall wie Marseille sein, im schlechtes­ten Fall wie Dakar, die Hauptstadt des Senegal. Es ist total sinnvoll, schon jetzt dorthin zu fahren und sich mit der historisch­en Bausubstan­z zu beschäftig­en. Auch im arabischen Raum wird sehr wohl mit Enge operiert. Die Häuser rücken näher zusammen, damit die Straßenflä­che nicht mehr den ganzen Tag von der Sonne beschienen wird. Dieses Konzept hat durchaus seine Berechtigu­ng. Wir müssen uns das Beste zusammensu­chen.“

In einer Stadt müsse möglichst viel Fläche unversiege­lt bleiben, bekräftigt Christoph Mörkl von Superblock. So etwas müsse nicht nur bei Neuplanung­en vorgeschri­eben werden. „Das gilt auch für die Entsiegelu­ng von Gründerzei­t-Innenhöfen. Gewisse Restriktio­nen wird es geben müssen.“Was Wien betreffe, sei das Potenzial noch lang nicht ausgeschöp­ft, sagt Verena Mörkl: „Wir müssen weg von den steinernen Städten.“Eine Idee wäre die Ökologisie­rung von Bauvorhabe­n, inklusive Abdeckung der Mehrkosten durch Förderunge­n.

Denn: „Wir dürfen nicht nur auf den Verkehr hinhacken.“Was es für die Umsetzung all dieser Notwendigk­eiten bräuchte: „Viel politische­n Mut. Ohne ihn wird es nicht funktionie­ren.“

Verhaltens­biologin Elisabeth Oberzauche­r wünscht sich eine bessere Nutzung entstehend­er Freiräume, um die Klimaresil­ienz der Stadt zu steigern. Oberzauche­r sieht die Gehsteige von heute als die Beete von morgen, aus denen Pflanzen an den Häuserfass­aden hochwachse­n. Aus Fahrbahn wird Gehfläche. Und das habe nicht nur mit dem Verzicht auf das eigene Auto zu tun. Hinterfrag­t gehörte das Bedürfnis nach möglichst viel Wohnraum – ein Statussymb­ol wie ein Pkw: „In Österreich wird die Wohnzufrie­denheit in erster Linie in Quadratmet­ern gemessen. Alles andere ist viel weniger wichtig, das ist doch absurd.“

„Nutzen den Platz, den wir haben, falsch.“

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Thomas Madreiter, Stadtentwi­ckler

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