Türkei zwischen Pandemie und Pleite
Die jüngste Krise liegt erst zwei Jahre zurück. Jetzt stürzt die Coronapandemie die Türkei in die nächste Rezession.
Geschlossene Geschäfte, ausgestorbene Einkaufsstraßen, verwaiste Plätze, leere Strände: Auch in der Türkei hinterlässt Covid-19 dramatische Spuren. Die 18-Millionen-Metropole Istanbul gleicht einer Geisterstadt. In wenigen Ländern breitet sich das Virus derzeit so rasant aus wie in der Türkei. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von einem „dramatischen Anstieg der Infektionen“. Am Freitag lag die Zahl bei mehr als 100.000. Laut offiziellen Angaben gibt es 2500 Tote.
Lang spielte die Regierung in Ankara die Gefahr herunter. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan sträubte sich gegen die von den Fachleuten geforderten Kontaktsperren. Er sorgt sich um die ohnehin angeschlagene Wirtschaft. Um die weitere Ausbreitung des Virus zu bremsen, erließ die Regierung ab Donnerstag
eine viertägige Ausgangssperre für Istanbul sowie weitere 30 Städte und Provinzen. Bereits an den beiden vergangenen Wochenenden gab es diese Verbote für jeweils 48 Stunden, jetzt werden sie ausgedehnt: Am Donnerstag war ein Feiertag, am Freitag begann der Fastenmonat Ramadan. Schulen, Cafés und Bars sind geschlossen,
Großveranstaltungen und in Moscheen verboten.
Inzwischen räumt Erdoğan ein, dass die Pandemie „ernste ökonomische Folgen“haben wird. Im Einzelhandel läuft fast nichts mehr. Der Tourismus, der rund zwölf Prozent zum türkischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt, steht still. Noch Ende 2019 schien die Türkei auf einem guten Weg. Für 2020
Gebete rechnete Finanzminister und Erdoğan-Schwiegersohn Berat Albayrak mit einem Wachstum von fünf Prozent. Jetzt erwarten Analysten eine Schrumpfung um mindestens fünf Prozent.
Wie prekär die Lage ist, lässt sich am Kurs der türkischen Lira ablesen. Sie fiel gegenüber dem Dollar auf den tiefsten Stand seit der schweren Währungskrise vom Sommer 2018. Beigetragen haben zu dem Lira-Verfall vor allem massive Kapitalabflüsse. Im ersten Quartal zogen Anleger rund 6,5 Milliarden Dollar aus der Türkei ab.
Hinter der Kapitalflucht stehen wachsende Sorgen vor Zahlungsschwierigkeiten des Landes. Zwar belaufen sich die Staatsschulden der Türkei nur auf rund 31 Prozent des BIP. Das ist weniger als halb so viel wie 2001, im Jahr der großen türkischen Finanzkrise. Rechnet man aber die Auslandsschulden der türkischen Banken und Unternehmen
hinzu, ist die Quote doppelt so hoch. Und viele Firmen haben Probleme, ihre Devisenkredite zu bedienen: Wegen des Verfalls der heimischen Währung geben sie immer mehr Lira für Zinsen und Tilgung aus. Das Geld fehlt für Investitionen.
In den kommenden zwölf Monaten müssen Staat und Unternehmen für den Schuldendienst 172 Milliarden Dollar aufbringen. Die Brutto-Devisenreserven und Goldbestände der Türkei belaufen sich aber nur noch auf knapp 90 Milliarden Dollar. Die Türkei könnte zwar wie schon 2001 den IWF um Hilfskredite bitten. Erdoğan, der den Fonds als „weltgrößten Kredithai“beschimpft, will aber davon nichts wissen. Er fürchtet Spar- und Reformauflagen. Sein Sprecher Ibrahim Kalin versicherte, ein Hilfsabkommen mit dem IWF stehe „nicht auf der Tagesordnung“.