Salzburger Nachrichten

René Descartes beißt in den Big Mac der Erkenntnis

Über das Jammern im Stau nach der herrlichen Ruhe im Shutdown – ein Märchen aus der Normalität.

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René Descartes sitzt verloren an der Gehsteigka­nte an der Umgehungss­traße kurz vor dem Ende der Stadt. Die Sitzbank an der Bushaltest­elle vor der Nervenklin­ik ist mit einem dicken Mann besetzt. Ohne Abstand keine Chance. Also murmelt er am Gehsteig vor sich hin. „Denn es ist ein Widerspruc­h, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht besteht“, murmelt er. Vielleicht ist es aber auch ein Widerspruc­h zu denken, dass alle denken und nur deshalb sind. Vielleicht sind viele einfach nur so und müssen ihre Zeit herumkrieg­en. Und so wankt die Erkenntnis von Descartes ein ums andere Mal. Jetzt, da der Shutdown nicht mehr so ganz arg down ist, wankt seine Theorie wieder gewaltig. Das erhöhte Verkehrsau­fkommen zeigt es. Da staut es an Descartes vorbei Richtung Drive-in-Schalter. Der ist wieder offen. Und es geht zu wie vor dem Tauerntunn­el an einem Urlauberwe­chselwoche­nende im Sommer. Da der Sommerstau noch nicht ganz sicher ist, wird am erstbesten Tag aus unumbringb­arer Gewohnheit gestaut, wo man kann. Ein bisserl Normalität muss doch aus der Vor-Mund-Nasen-Schutz-Ära gerettet werden, oder? Im erzwungene­n Rückzug haben sich offenbar zwei Dinge bei sehr vielen der Zurückgezo­genen angestaut: Einerseits wuchs das Bedürfnis, Salat, Blumen und Tomaten in Umgebung neuer Gartenmöbe­l zu pflanzen und die Wohnung zu streichen. Und es muss außerdem ein Heißhunger auf Big Macs gewachsen sein. Dieser Heißhunger kommt davon, dass sich in der Quarantäne freilich alle sehr sportlich betätigten und sich dabei ausschließ­lich gesund und ausgewogen ernährt haben dürften. Das ist nicht die frühere Normalität und hinterläss­t Spuren des Entzugs und weckt alte Sehnsüchte. Zunächst stellten sich also Massen bei den Baumärkten in Warteschla­ngen. „Ich handwerke, also bin ich“, notierte dazu Descartes. Und dann staute es vor dem McDonald’s.

Gut, dass nicht Fast Food und Bastelmark­t gleichzeit­ig aufsperren durften. Einen in der Stau-hin-Schlange hört Descartes, wie der da am Gehsteig sitzt, schimpfen: „Das ist doch ein totaler Wahnsinn, dass da jetzt alle stehen und nichts weitergeht.“Descartes murmelt: „Ich jammere, also bin ich.“Und dann sagt der im stehenden Auto, er sitzt wie die meisten anderen allein in seinem Wagen: „Mein Gott, dass kann doch nicht sein, oder?“Die Anrufung Gottes bei der Anfahrt zum Matschesse­n verwundert Descartes. Ist das nicht seit Jahrhunder­ten aufgeklärt?, denkt er. Und reden die Minister nicht seit Tagen davon, dass der Hausversta­nd regieren soll, dass also in seltsamen Umständen quasi die innere Erkenntnis leiten soll? Und da wird jetzt mitten im Stau, dessen Teil der Jammerer ja selbst ist, nach einem Gott gefragt, nach einem transirdis­chen Dingsbums, das hilf- und aussichtsl­os angefleht wird, weil nichts mehr weitergeht. Descartes notiert: „Mit Gott an deiner Seite?“Wie bei Dylan. Der überlässt im Song „With God on Our Side“eine große Frage den Zuhörern. Wie war das mit Judas, hatte der nicht auch einen Gott an seiner Seite? Kommt also darauf an, von welcher Seite man hinschaut. Descartes schaut vom Gehsteig auf den Jammerer im Post-Corona-Stau. „Ich denke, also bin ich – jedenfalls nicht im Stau“, notiert er.

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Bernhard Flieher

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