Eine syrische Familie wird zermürbt
War es klug von den Syrern, vor neun Jahren gegen das Assad-Regime zu revoltieren? Diese Frage ist falsch gestellt.
Der Bürgerkrieg in Syrien ist im März 2011 nicht einfach plötzlich ausgebrochen. Er hatte vielmehr einen Vorlauf, er hat sich lang vorher angekündigt, und aufmerksame Beobachter, die seit Jahrzehnten verfolgen, wie die syrische Gesellschaft in Angst, Hass und Gewalt auseinanderdriftet und sich in Dauerkrisen, Staatsstreichen und Diktaturen selbst zerstört, sahen die Katastrophe kommen.
Einer der aufmerksamsten Beobachter ist der syrische Erzähler Khaled Khalifa. Seit fast dreißig Jahren beschreibt er in seinen Romanen den schleichenden politischen, sozialen und kulturellen Kollaps des Landes. 1964 in Aleppo geboren, gehört er einer Generation an, die nichts anderes als das diktatorische Regime der Assad-Familie gekannt hat. Er lebt in Damaskus, im inneren Exil, und hält sich als Drehbuchschreiber von TV-Serien über Wasser. Doch seine regimekritischen Romane haben ihn zum prominentesten Autor des Landes gemacht und weisen ihn als den wahren Biografen Syriens aus.
Die meisten seiner Romane greifen nationale Tabuthemen auf und sind in Syrien verboten. Deshalb werden sie in Beirut oder Kairo gedruckt und in Syrien nur unter dem Ladentisch verkauft, oder sie kursieren im Land als Raubkopien und PDF-Dateien. Nachdem Khalifas Bürgerkriegsroman „Der Tod ist ein mühseliges Geschäft“vor zwei Jahren zum Überraschungserfolg im deutschen Sprachraum geworden ist, bringt sein deutscher Verlag nun den Vorgängerroman von 2013 heraus: „Keine Messer in den Küchen dieser Stadt“.
Um dem Zensor keine Handhabe zu bieten, nennt Khalifa darin keine realen Namen. Die Assads, Vater und Sohn, werden nirgendwo erwähnt, auch der Name Baath kommt nicht vor. Die Rede ist immer nur von „der Partei“und „dem Präsidenten“. Das Leben des namenlosen Icherzählers des Romans steht von Anfang an unter einem ominösen Stern: Er wurde im November 1970 geboren, an dem Tag, an dem sich „der Präsident“– also Hafiz Assad, der Vater des heutigen
Diktators – an die Macht putschte, „der Mann, der uns das Leben verhunzt hat“. Seit damals führen der Erzähler und seine Familie „ein unheilvolles Leben, das sich parallel zur Partei entwickelte“.
Durch die Zeiten mäandernd erzählt Khaled Khalifa über drei Generationen hinweg die Geschichte einer gebildeten, kunstsinnigen Mittelstandsfamilie in Aleppo, die ein Parallelleben in stiller Gegnerschaft zum Regime zu führen versucht. Sie wird jedoch vom Zwang zum Personenkult um den Führer Assad, von der plärrenden Parteipropaganda, der Knebelung durch die Diktatur und der Bespitzelung durch den allmächtigen Geheimdienst zermürbt. Khalifas Thema ist die Vorgeschichte des Bürgerkriegs – die allmähliche Zerstörung des Lebens in Syrien über ein halbes Jahrhundert hinweg, die in den offenen Bürgerkrieg mündet.
Der Vater hat die Familie früh im Stich gelassen und sich in die USA abgesetzt; die Mutter, die Matriarchin der Familie, eine Lehrerin, bringt ihre vier Kinder in Aleppo allein durch, mithilfe ihres Bruders Nisâr, eines Musikers. Während der Erzähler, sein jüngerer Bruder und seine beiden Schwestern auf unterschiedliche Weise am syrischen Zwangsleben zuschanden gehen, versinkt die Mutter im Lauf der Jahre in Depressionen. Sie zieht sich in ein „inneres Parallelleben“zurück, verliert sich in verklärten Erinnerungen und fantasiert nostalgisch vom kultivierten Leben im alten Aleppo. Sie klagt ohne Unterlass nur über ein Thema: „die Verwandlung ihrer wundervollen Stadt in einen Trümmerhaufen, der nach Militär und Parteigenossen stank“.
Die Stadt Aleppo ist die eigentliche Heldin des Romans. Der reale Zerfall der altehrwürdigen Handelsmetropole, die nach jahrelanger Belagerung durch Assads Truppen 2016 fast vollständig zerstört wurde, bildet die Folie für den Zerfall der Romanfamilie, die unter dem überwältigenden Gefühl von Schande, Entwürdigung und erniedrigender Angst vor der Diktatur kaputtgeht. Die schönen alten Stadtviertel werden abgerissen, Aleppo verwahrlost, verdreckt, schwillt auf und wird umwuchert von einem Slumgürtel. Das Familienhaus am Stadtrand, einst mit Blick auf Lattichfelder und Kirschbäume, wird von Hütten landflüchtiger Zuwanderer ringsum erstickt und von den Parteilautsprechern niedergedröhnt – „ein Mörderort“.
Khalifa zeichnet prägnant nach, wie sich die einzelnen Familienmitglieder zu ihrem Niedergang verhalten. Die Pein des sozialen Abstiegs zerstört bei einigen den moralischen Kompass und zerreißt die Familienbande. Raschîd, der Bruder des Erzählers, verhält sich die längste Zeit still und geht ohne Hoffnung neben dem eigentlichen Leben her, 2003 schließt er sich plötzlich dem Dschihad an und kämpft in Bagdad gegen die Amerikaner. Sein Ende ist Verzweiflung.
Saussan, die temperamentvolle und sinnliche Schwester des Erzählers, schleudert zwischen den Extremen hin und her. Sie beginnt eine Affäre mit einem Offizier des
Regimes, tritt der Baath-Partei bei, schließt sich einer studentischen Terrormiliz des Geheimdienstes an, bespitzelt und denunziert ihre Kolleginnen. Danach schwingt sie ins andere Extrem. Sie lässt sich ihr Jungfernhäutchen reparieren und konvertiert zum radikalen Islam.
Allein dem Musiker Nisâr, dem Onkel der Geschwister, der liebenswürdigsten Figur des Romans, gelingt es, seine Integrität zu wahren. Er lebt ein halb offenes Leben als Schwuler und muss sich als Schwuchtel beschimpfen lassen, auch von Verwandten, die dazu auffordern, ihn umzubringen oder zu verleugnen, weil er die Familienehre besudle. Doch die Zeiten ändern sich, die aggressive Homophobie in der islamischen Gesellschaft ebbt ab. Dies ist die einzige Veränderung zum Besseren, die Khalifas Roman in Syrien feststellen kann.
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