Das Lied vom guten Ausgang … könnt ihr nur selber singen!
Wir brauchen Zeit. Wir ahnen, was eine gemeinsame Kraftanstrengung zu bewegen vermag.
„Das letzte Lied, das letzte Lied könnt ihr nur selber singen“, hieß es zum Abschluss der „Proletenpassion“von der in den 1970er-Jahren populären österreichischen Politband „Die Schmetterlinge“.
Dieser Appell an die Menschen, selbst aktiv zu werden und Verantwortung für Veränderungen zu übernehmen, ist das genaue Gegenteil der Worte vieler Heilsversprecher, die in der aktuellen Krise gerne gehört werden. Diese singen das Lied vom „guten Ausgang“und einer „besseren Welt“, die sich nach der Coronapandemie fast zwingend aufgrund einer allgemein veränderten Bewusstseinslage einstellen werden.
Sie malen uns Bilder von einem solidarischen Miteinander, von der Anerkennung unserer Verbundenheit und einer Leitkultur des Gemeinwohls. Das wäre wunderbar. Diese Utopien bedienen wohl vor allem eine große menschliche Sehnsucht. Sie versprechen Halt und Schutz und den Sieg des Guten über das Böse. So wie alle großen Heilsversprechen. Das wollen wir hören. Vor allem jetzt.
Doch die großen Interessenlagen in der Welt werden durch das Virus nicht automatisch andere. Schon lange stehen sich viele davon unversöhnlich gegenüber. Ökonomische und Machtinteressen haben globale Strukturen etabliert und durchgesetzt, die von denen, die ganz anderes wollen, kaum mehr beeinflusst werden können. Fragen wir etwa tausend Menschen in Salzburg, welche Form von Landwirtschaft und Tierhaltung sie sich auf der Welt wünschen, und schauen wir dann auf die globalen Realitäten. Die Differenz ist Ohnmacht.
Aber es gibt Anzeichen dafür, dass nun auch die Wünsche und Erwartungen all derer, die fühlen und lieben – ein großes Wort –, an Gewicht und Ansehen gewinnen. Die Hoffnung auf gute Veränderungen ist groß.
Deshalb stellen sich Fragen. Zuerst: Wie kommen wir aus dieser Situation der Angst und Krise wohlbehalten heraus? Können wir daran sogar reifen – als Einzelwesen, aber auch als Kultur und Gesellschaft? Wie könnten sich die jetzt spürbaren Wünsche nach etwas anderem durchsetzen? Was brauchen wir, um die Krise als Chance nützen zu können?
Die Psychoanalyse kann dazu viel sagen.
Auf jede übergroße, existenzielle Gefahr folgen als erste Reaktionen Schock, Starre und Verleugnung. Wir können oder wollen die Bedrohung vorerst nicht angemessen wahrnehmen. Dann folgen halb blinde Reaktionen, ganz so, als würden wir uns im Keller unseres Gefühlslebens befinden. Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und (Todes-)Angst setzen gewohnte Ebenen des seelischen Funktionierens vorerst außer Kraft. Primitivere und niedere Instinkte greifen. Wir versuchen Schuldige auszumachen, wollen grandios und unabhängig sein, wir werden irrational und wir werden auf unser Selbst zurückgeworfen.
Die Verleugnung haben wir alle mitgemacht. Trotz vieler Warnungen vor möglichen Pandemien glaubten wir vorerst, das Virus betreffe höchstens das entfernte Wuhan. In China selbst haben die Machthaber anfangs auch auf die Karte der Verleugnung gesetzt und diejenigen, die sich daran nicht beteiligen wollten, zum Schweigen genötigt. Auf jeweils andere Art folgten Länder wie Großbritannien, Brasilien, die USA oder Weißrussland diesem Verleugnungsmodus.
Die Abspaltung der Bösen sucht nach Schuldigen. Die Europäer, die Chinesen, die Flüchtlinge? Das „chinesische Virus“(Donald
Trump), „ die Europäer“(Xi Jinping), oder „die Flüchtlinge“(Viktor Orbán). Nicht wenige religiöse Führer und Prediger suchen die Schuldigen bei angeblich moralisch Sündigen. Jedenfalls sind es die anderen, irgendwelche da draußen.
Die Grandiosität schrien viele der politisch Mächtigen in die Kameras. Ganz wie im psychologischen Lehrbuch. Sie verkündeten ihre eigene Unverwundbarkeit und die der Nation unter ihrer Führung. Ein anderer Ausdruck der Grandiosität sind die Coronapartys, auf denen sich die vermeintlich Mutigen und Unverwundbaren treffen.
Und dann das Irrationale. Auch die Hamsterkäufe oder das Horten von Klopapier waren ein Teil unseres Umgangs mit der Bedrohung. Es gibt sogar Zeitgenossen, die allen Ernstes behaupten, sie seien mit 156 km/h durch die Stadt Salzburg gerast, nur weil sie „das Corona so aufregt“.
Nicht zuletzt geht es uns jetzt wieder vorrangig um uns. Das Elend der Flüchtlinge in den Lagern auf Lesbos oder die Menschen im zerbombten Syrien sind weit weg.
Was holt uns aus diesem Keller wieder heraus? Zuerst einmal brauchen wir Zeit. Wir müssen die Ängste um unsere Gesundheit, unsere privaten und beruflichen Existenzen an uns heranlassen.
Denken wir an ein Kind. Ein Kind, das Beängstigendes erlebt, sucht Nähe, Kontakt und Schutz. Es läuft zu jemandem, von dem es all das hoffentlich bekommt. Dieser erwachsene und erfahrenere Mensch fängt das Kind auf, schaut es an, fühlt und spricht mit ihm. Das Kind erlebt, seine Angst wird verstanden, vielleicht sogar erklärt und sie kann auch ausgehalten werden. So lernt es, seine Ängste zu regulieren.
Nicht viel anders ist es im Verhältnis von Regierten und Regierenden bei äußeren Gefahren. Wie bei archaischen Jägergruppen scharen sich die Menschen um ihre Führungspersönlichkeiten. Unsere Verantwortlichen bekommen viel Zustimmung. Sie bleiben ruhig, gelassen, sprechen viel mit uns und versichern, dass sie unsere Nöte verstehen. Sie erklären. Geben sich wissend und helfend. Das ist für die Bevölkerung ein ganz wichtiger Beitrag, ähnlich wie beim Kind. Wir fühlen uns beruhigt. Der Appell an die Gemeinsamkeit – wir alle sind betroffen und gemeinsam können wir es schaffen – verbindet.
Diese Kultur der Verarbeitung und Aufklärung könnte uns aus dem Keller herausholen. Aus lähmender Angst könnte reife Besorgnis werden, die Anerkennung gegenseitiger Abhängigkeit und ein bleibendes Verantwortungsgefühl.
Jede und jeder für sich, aber auch für das Wohl der Gemeinschaft.
Glauben wir Umfragen, sind wir mehrheitlich an diesem Punkt. Das Vertrauen in gemeinschaftliches Handeln ist gewachsen. Wir sehen, was möglich ist, wenn eine Bedrohung wirklich als Bedrohung begriffen und gehandelt wird. Maßnahmen finden Akzeptanz, die undenkbar schienen. Wir lernen, die Menschheit ist grundsätzlich zu einer großen Kraftanstrengung in der Lage. Das könnten wir auch bei der Bekämpfung der Armut, des Hungers oder des Klimawandels tun. Wir ahnen, dass es dafür ein Fundament gibt.
Doch jetzt kommt ein großes Aber.
Derzeit leisten wir gemeinsam einen Beitrag. Das reicht vom Verzicht bis zu erschöpfender Arbeit. Wenn wir das gut hinter uns gebracht haben, wollen wir gemeinsam feiern und belohnt werden. Wenn sich aber schon während oder nach der Feier zeigt, dass es Krisengewinner, Bevorzugung, Förderungsbetrug oder gar Korruption gibt, stürzt das immer labile Gemeinschaftliche ins Gegenteil ab.
Ein Kind, das nie angelächelt wird, stirbt. Jeder Mensch ist von Anfang an mit seiner sozialen Umgebung in Kontakt. Es gibt uns nicht ohne die anderen. Auch als Erwachsene brauchen wir den anerkennenden Blick dieser anderen. Den Blick, der uns zeigt, dass wir dazu gehören, dass wir gewollt sind.
Gerade jetzt erleben viele Menschen, die bisher eher unbedankt und schlecht bezahlt vor allem für den Gewinn anderer ihre Leistungen erbracht haben, etwas von dieser Anerkennung. Sie werden sogar zu Heldinnen und Helden erklärt. Diese Menschen, und es sind nicht wenige, dürfen nach der Krise nicht wieder abgehängt und missachtet werden.
Eine solche Verachtung kann zu sehr komplexen innerseelischen Scham- und Schuldgefühlen führen. Soziale Beschämung führt auch zu Neid und Zorn. Aber nicht gegen die, die sie wirklich verursachen, sondern gegen die, die noch ärmer und ohnmächtiger sind. So könnte eine mächtige Welle destruktiver Verdrossenheit auf uns zurollen. Es wäre quasi eine Übersiedlung in andere Keller.
Zudem geraten Mächtige in eine Versuchung. Die verstärkte Akzeptanz ihrer Führung kann ausgenützt werden. Wir können schnell übersehen, wie Führungspersönlichkeiten diese besondere Situation dafür verwenden, ganz andere Pläne und Interessen durchzusetzen.
Dennoch. Wir haben alle erlebt, wie verwundbar wir sind. Individuell und als Gesellschaft. Wir haben aber auch unsere Ressourcen und Kraft gespürt.
Das könnte Rückenwind für Bemühungen um ein besseres Leben bedeuten. Könnte!
Auf den Boden bringen, das letzte Lied singen, das müssen du und ich.