Alles anders nach Corona? Nein.
Dass sich die Wirtschaft grundlegend ändere, sei illusorisch, sagt Ökonom Mathias Binswanger.
Das Coronavirus dämpft die Euphorie über die Globalisierung, aber es bringt sie nicht völlig zum Erliegen.
SN: Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes – wie und vor allem wie gut kommen wir da heraus? Mathias Binswanger: Das hängt von der Entwicklung in den nächsten Wochen ab, ob die Konjunkturerholung v-förmig erfolgt oder einen breiten u-förmigen Verlauf nimmt. Wenn nichts dazwischenkommt, ist es möglich, dass wir ähnlich wie China relativ schnell wieder herauskommen und die Folgen längerfristig nicht zu stark sein werden. Man kann die Krise mit Kurzarbeit und staatlichen Hilfskrediten überbrücken. Wenn es jedoch länger dauert, dann gibt es längerfristig gravierende Konsequenzen.
SN: Ist es eine Frage der Zeit, ob es dauerhafte Wohlstandsverluste gibt oder bald alles wieder wie früher ist?
Wenn die weltweite Wirtschaftsleistung wie derzeit prognostiziert um drei Prozent sinkt, wären wir auf der Stufe von 2018. Wenn es etwas mehr wird, geht es um ein paar Jahre mehr zurück. Aber das wäre noch nicht dramatisch. Da gibt es Krisen, die schlimmer waren, etwa in den 1930er-Jahren, als in den USA das Bruttoinlandsprodukt drei, vier Jahre hintereinander geschrumpft ist und im schlimmsten Jahr um zehn Prozent: Und die Menschen hatten größtenteils noch keine soziale Unterstützung – also keine Arbeitslosenversicherung.
SN: Sind Vergleiche mit damals oder mit der Nachkriegszeit in Europa überzogen?
Es ist eine andere Krise. Vom Ereignis her kann man es mit einem Krieg vergleichen, die Wirtschaft wurde durch einen exogenen Schock lahmgelegt. Auf die Wirtschaft wirken ja die staatlichen Maßnahmen, die man zum Eindämmen des Virus ergriffen hat. Bei den anderen Krisen kamen die Auslöser aus der Wirtschaft selbst. Es ist keine Krise des Kapitalismus.
SN: Dennoch wird die Kritik am Wachstumszwang und am System wieder laut. Könnte sie diesmal fruchten oder setzt sich die Ansicht durch, dass man die Krise und die Arbeitslosigkeit nur über Wachstum überwinden kann? Jede Krise ist eine Gelegenheit, Kritik anzubringen. Aber diese Krise zeigt ja gerade, welche schwerwiegenden Konsequenzen es hat, wenn das Wachstum auch nur für kurze Zeit ausfällt. Das bestätigt den Wachstumszwang. Daher wird man versuchen, die Wirtschaft möglichst rasch wieder hochzufahren, damit sich Arbeitslosigkeit nicht in größerem Stil verfestigt. Was vermutlich bleiben wird, ist ein Dämpfen der Globalisierungseuphorie.
SN: Der Trend zur Deglobalisierung verstärkt sich. Ist das die Rückkehr auf ein „gesundes“Niveau oder ein echter Rückschlag für den Welthandel? Ich glaube nicht, dass die Globalisierung grundsätzlich infrage gestellt wird, aber man wird globale durch lokale Strukturen ergänzen. Das sind aber eigentlich Entscheidungen gegen den Markt. Man produziert nicht mehr nur dort, wo es am billigsten ist, weil man merkt, dass auch die Robustheit und die Resilienz der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Und man bei Krisen gewappnet sein muss.
SN: Lieferketten sollen wieder kürzer, Beschaffung und Produktion regionaler werden:
Ist das der aktuellen Lage geschuldet oder werden diese Bekenntnisse von Dauer sein? Man wird das System nicht grundlegend verändern. Viele Produkte sind heute so komplex, hoch spezialisiert und in globale Wertschöpfungsketten involviert, die kann man gar nicht zur Gänze lokal produzieren. Aber es geht bei lebensnotwendigen Gütern, wie bei Nahrungsmitteln und medizinischen Grundstoffen. Teilweise geht es auch darum, Lager anzulegen.
SN: Sie sagen in Ihrem neuen Buch, dass der freie Handel nicht überall nur Gewinner hervorbringe. Für landwirtschaftliche Produkte stellen
Sie das infrage. Warum?
Rein ökonomisch gedacht lohnt sich Landwirtschaft in Ländern wie der Schweiz oder Österreich nicht, die ist zu teuer. Die paar Bauern könnte man abziehen, die könnten woanders mehr verdienen. Man könnte alle Lebensmittel billig importieren und hätte mehr Geld für andere Güter. Es gibt aber andere Ziele, die mit der Landwirtschaft verbunden sind, die Versorgungssicherheit, der Erhalt der Kulturlandschaft, das Tierwohl, Biodiversität. Die Menschen wollen eine lokale Lebensmittelversorgung, aber die Werbung erfolgt nur über den Preis, es wird ständig gesagt, wo es noch billigere Angebote gibt. Einfluss auf die Produktion hat man aber nur im eigenen Land. Auf den ersten Blick sind die Bauern die Gewinner und Konsumenten die Verlierer. Aber der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel am Konsum geht tendenziell zurück, spielt also für viele Menschen eine weniger starke Rolle. Dafür ist ihnen wichtiger, wie sie sich ernähren, woher die Lebensmittel kommen, daher gewinnen auch die Konsumenten durch einen Erhalt der heimischen Landwirtschaft.
SN: Aber hängt es davon ab, ob die Menschen bereit sind, höhere Produktionskosten über höhere Preise abzugelten? Das muss man in einem weiteren Kontext sehen. Die Schweiz hat da Erfahrungen. Vor dem ersten Weltkrieg hat man die Nahrungsmittelproduktion, vor allem bei Getreide, aufgegeben, dann kam es zu Engpässen. Das sollte sich nicht wiederholen, man entschied, wieder selbst anzubauen, das war der Beginn des Ziels der Versorgungssicherheit. Es geht nicht darum, alles zurückzuholen, sondern den Rückgang der Landwirtschaft zu verlangsamen und Lebensmittel, die man sinnvollerweise im eigenen Land produzieren kann, selbst zu erzeugen – unter Bedingungen, die wir wollen. Da tut sich ein Widerspruch auf: Bauern werden zu mehr Effizienz angehalten, das geht aber nur in einer industriellen Landwirtschaft, die es auch im Ausland gibt. Dann fällt aber gerade der entscheidende Grund weg, weiterhin im Inland zu produzieren. Diese Gratwanderung hat die Landwirtschaftspolitik bis heute nicht bewältigt.
SN: Ist der Abzug der Produktion aus Schwellen- und Entwicklungsländern nicht eine Gefahr für die lokale Bevölkerung? Verliert sie möglicherweise ihre Lebensgrundlage?
Das geschieht sowieso. Viele Industrien ziehen von Land zu Land, dorthin, wo es am billigsten ist. Die Textilindustrie ist dafür das Paradebeispiel. Globale Wertschöpfungsketten sind geografisch volatil. In einzelnen Branchen findet aber eine gewisse Deglobalisierung aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung statt. Wenn man für viele Produktionsvorgänge keine Arbeitskräfte mehr braucht, spielt es weniger eine Rolle, wo die Produktion stattfindet. Da wird die Nähe wieder zu einem Vorteil.
SN: Auch wenn die Krise keine des Kapitalismus ist, sehen Kritiker die Zeit gekommen, alte Forderungen zu erheben – nach genereller Arbeitszeitverkürzung, dem bedingungslosen Grundeinkommen. Wie stehen die Chancen dafür? Schlecht, sobald es um die Finanzierung geht. Diese Ideen kann man schön diskutieren, bis man das Geld dafür braucht. Aber diese Krise führt vielleicht dazu, dass man vom Denken in fixen Arbeitszeiten wegkommt, dass alle für Anwesenheit in einem Gebäude bezahlt werden, in dem sie bestimmte Zeit verbringen. Die Krise zeigt ja, dass man zeitlich und räumlich flexibler arbeiten kann. Das Denken in fixen Arbeitszeiten wird den meisten Jobs heute nicht mehr gerecht.
SN: Es heißt oft, jede Krise sei eine Chance. Welche Chancen eröffnet die Covid-19-Krise?
Dass man zum einen sieht, dass Homeoffice funktioniert. Es heißt ja nicht, dass man immer zu Hause arbeiten muss, man wird sich vielleicht freuen, wenn man zwei, drei Tage in der Woche wieder ins Büro geht, und das gern – das sind ganz neue Erfahrungen. Und ich glaube, es gibt eine Chance für lokale Produktion und dass der antiquierte Begriff der Versorgungssicherheit eine gewisse Renaissance erlebt. Wir haben in der Schweiz gemerkt, dass in der Pharmaindustrie das meiste im Ausland produziert und bei uns nur mehr veredelt wird und wir abhängig geworden sind, obwohl wir das selbst erzeugen könnten. Rein ökonomisch wäre das keine optimale Entscheidung, weil wir teurer produzieren. Aber wir merken eben, dass es nicht immer das Beste ist, ökonomisch das Maximum herauszuholen zu wollen.
SN: Wie fällt Ihr Blick in die Zukunft aus?
Ich bin zuversichtlich, wir haben schon ganz andere Krisen überwunden, das wird auch diesmal so sein. Es wird am Anfang Zeit brauchen, die Menschen werden zögerlich konsumieren, beim Reisen wird es länger dauern, vielleicht gibt es da auch eine Änderung im Reiseverhalten. Aber wir werden nach Corona keine grundlegend andere Wirtschaft haben. Das ist eine Illusion.