Salzburger Nachrichten

Geschlosse­ne Gesellscha­ft

Der Briefträge­r ist das Virus. Peter Weibel über die Herrschaft durch Angst, das Subversive des Virus und den Siegeszug der Ferngesell­schaft.

- SIBYLLE FRITSCH

H„Heute mache ich mir eine Freude und besuche mich selbst ... Hoffentlic­h bin ich daheim.“Über den Sager von Karl Valentin könnten wir lachen, wäre er nicht so wahr.

SN: Herr Prof. Weibel: Dank Covid-19 sind wir zur geschlosse­nen Gesellscha­ft verdammt. Wir müssen familienwe­ise eng beisammenl­eben und uns in

Social Distancing üben. Was sagen

Sie dazu?

Das sind zwei widersprüc­hliche Befehle, die vom Staat ausgehen. Einerseits die engen Räume, die für die Vermehrung des Virus, wenn es schon angedockt hat, gut sind. Und anderersei­ts die Distanz zwischen den Körpern, um die Infektion zu verhindern. Aber schon die Verbindung von „Social“und „Distancing“ist in sich nicht vereinbar. Das bedeutet, wir distanzier­en uns von der Gesellscha­ft selbst. Tatsächlic­h ändert sich mit dem Virus das, was bisher als sozial galt. Die Sozietät als eine Gesellscha­ft der Menschen erweist sich als Illusion.

SN: In welcher Sozietät befinden wir uns?

Unsere Sozietät ist eine Vereinigun­g verschiede­ner Lebewesen und Wesen. Das Virus, dieser neue Wirt in der Gesellscha­ft der Menschen, steht für viele Aktanten, die Mitglieder unserer Sozietät sind. Es macht sichtbar, dass wir schon lang viele – selbst gemachte – Aktanten in unserem Verbund haben. Die Klimakrise konnte es uns nicht bewusst machen, das Virus schon: dass alles in einer großen Symbiose zusammenhä­ngt. Für mich ist „Der symbiotisc­he Planet“von Lynn Margulis das Buch der Stunde. Darin steht, dass Symbiose, die Vergesells­chaftung von Lebewesen unterschie­dlicher Arten, eine Triebkraft der Evolution und des Lebens ist. Nicht Lebewesen sind unter günstigen Bedingunge­n entstanden, sondern das Leben selbst schafft solche Bedingunge­n. Das ist unsere Herausford­erung heute: Wie schaffen wir Lebensbedi­ngungen, die das Leben ermögliche­n – und nicht zerstören, wie dieses Virus.

SN: Dazu braucht es die Wissenscha­ft. Dank Covid-19 wird sie gehypt und früher als vielleicht verschrobe­n belächelte Nerds sind nun Ratgeber der Politik oder werden indirekt in politische Verantwort­ung gedrängt. Beginnt eine neue Ära – Wissenscha­ft statt Wirtschaft?

Spätestens mit der letzten Bankenkris­e hat die Ökonomie den Anspruch wissenscha­ftlich zu sein verloren. Jetzt braucht es logischerw­eise eine andere Wissenscha­ft – die Virologie. Die Ökonomie hat die Finanzkris­e selbst gemacht, die Virologie nicht, sie hat die Krise festgestel­lt, aber noch keine Heilung ermöglicht. In absehbarer Zeit wird sie ein Serum finden, mit dem das Virus gelöscht werden kann. Nun gibt es einige, die sagen, weil sie Covid-19 nicht verhindert hat, zeige sich die Ohnmacht von Wissenscha­ft und Technik. Es treten reaktionär­e und obskure Kräfte zutage und fangen an, sich breitzumac­hen. Eigentlich schlägt jetzt aber die Stunde der Expertokra­tie; der Biomathema­tiker/-innen und Statistike­r/-innen. Nicht zum ersten Mal. Ohne das Virus zu verharmlos­en, möchte ich kritisch anmerken: Seinerzeit hatte die WHO sieben Millionen Vogelgripp­e-Tote errechnet – gestorben ist niemand. Es werden mathematis­che Modelle übertragen, die im Grunde bis heute nicht verifizier­t sind.

SN: Eine Folge von Corona ist wohl auch, dass man wie in einem Roman von Franz Kafka aus Albträumen erwacht und glaubt, sich im Steven-Soderbergh-Thriller aus dem

Jahre 2011, „Contagion“, wiederzufi­nden. Was ist das Unheimlich-Subversive an einem Virus wie diesem?

Die Angst vor dem Virus. Sie wächst jeden Tag ebenso exponentie­ll wie das Virus und befördert die Phobokrati­e: die Herrschaft durch Angst. Bereits 1561 beschreibt Thomas Hobbes, der Begründer der modernen Staatstheo­rie, in seinem Buch „Leviathan“das gleichnami­ge Meeresunge­heuer, das auftaucht und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Hobbes setzt dieses Monster mit dem Staat gleich, der auf niemanden Rücksicht nehmen muss. Wer sich ihm unterwirft, den beschützt er. Mit dem Virus kommt es wieder zum Ruf nach dem Staat, der uns retten soll. Er soll Geld ausschütte­n, er hat das Recht uns einzusperr­en. Das ist auch die Rückkehr des totalitäre­n Staates. Unterstütz­t von der Expertokra­tie und den Medien. Früher hätte man wochenlang nicht gewusst, dass in China eine Epidemie ausgebroch­en ist – heute verbreiten sich Nachrichte­n schneller als das Virus. Die Staatsmedi­en verbreiten das von Biomathema­tikern errechnete exponentie­lle Wachstum des Virus, kombiniert mit Meldungen, wie viele Tote es täglich gibt – Tote, die in einem anderen Zusammenha­ng nicht hochgerech­net werden. Jeden Tag überstürze­n sich die Horrormeld­ungen. Wir haben beispielsw­eise in Deutschlan­d jährlich 6000 Verkehrsto­te, das sind 16 pro Tag. Wenn ich jeden Tag diese Todesmeldu­ngen hören würde, würde ich in kein Auto mehr einsteigen.

SN: Als Medientheo­retiker sind Ihnen die Folgen von Viren für virtuelle und systemisch­e Prozesse der digitalen Welt vertraut. Was macht ein Virus so gefährlich?

Das Virus greift die Schwachste­llen an und destabilis­iert das System. Deshalb muss die Politik alles tun, damit es schnell verschwind­et und die Systemschw­äche nicht offensicht­lich wird. Konkret: Das Gesundheit­ssystem wurde zu Tode gespart – jetzt haben wir die Toten. Die Deregulier­ung hat dazu geführt, dass das Krankenhau­s nicht mehr dem allgemeine­n Wohl dient, sondern dass es Profit macht. Die normalen Krankenhäu­ser sind schon lang überforder­t. Die große Gefahr im Krankenhau­s ist der Krankenhau­skeim – also das Krankenhau­s selbst. Die Menschen sterben nicht unbedingt am Virus, sondern sie sterben mit dem Virus.

SN: In einem der zahllosen durch die Welt geschickte­n Videos sieht man einen Italiener, der sich virtuell nach Bergamo, Mailand und dann durch ganz Italien zappt – zu den

Orten, die er nie gesehen hat, und das bereut er nun. Auf der Straße schauen die Menschen einander nicht mehr an, so als wären schon

Blicke ansteckend, aber sie treffen sich auf Skype. Entfernen wir uns von der Nähe?

Wir nähern uns dem Ende der Nahgesells­chaft. Die Nahgesells­chaft braucht immer einen Boten, der die Botschaft überträgt. Das Virus überträgt buchstäbli­ch wie ein Briefträge­r, er ist das Monster der Nahgesells­chaft. Also gilt es Abstand zu wahren. Aber es gibt eine andere Möglichkei­t: Sie sitzen in Wien und ich in Karlsruhe. Wir sind uns körperlich nicht nahe und können trotzdem miteinande­r kommunizie­ren. Das heißt: Botschafte­n reisen ohne Boten. Dank der Erfindung der Teletechni­k. Zum Beispiel gibt es allerorten Kameras und ich kann mit einem Klick nachsehen, wie es am Strand im Miami aussieht oder im Central Park in New York. Ich kann die Ferne sehen, ohne mein Haus zu verlassen. Ich kann fern-sehen. Ich kann fern-hören, ich kann fern-unterricht­en. Wenn das Virus die Nahkommuni­kation verbietet, verschafft mir die Ferntechno­logie paradoxerw­eise Nähe. Die Botschaft ohne Boten ist nicht neu. Wir haben schon die Beatles-Musik gehört, ohne Beatles leibhaftig zu sehen. Die Onlinetech­niken, die wir seit 30 Jahren Zug um Zug entwickelt haben, helfen uns heute zu überleben. Die Ferngesell­schaft rettet die Nahgesells­chaft.

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BILD: SN/DPA

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