Salzburger Nachrichten

Wer fürchtet sich vorm schwarzen Schnee?

Ökologisch­es Katastroph­engebiet. Die Kohleförde­rung in Sibirien soll auf Rekordumfä­nge steigen.

- STEFAN SCHOLL

Der Kater habe nicht miaut, sondern laut geschrien, sagt Witali Schestakow. „Er hat meine Frau geweckt, ihr war übel, sie holte unsere Tochter aus dem Bett. Das Kind wurde bewusstlos.“Beide überlebten, landeten aber auf der Intensivst­ation: Kohlenmono­xidvergift­ung. Das Kohlenmono­xid stammte aus glosender Kohle in einem vergessene­n Schacht. Auf der Wiese am anderen Ende der Straße qualmte es schon vorher heftig. Stadtbeamt­e sprachen von einem Müllkippen­brand.

Die Menschen in Schestakow­s Wohngegend haben im Juni 2019 in einer Videobotsc­haft den kanadische­n Premier Justin Trudeau um ökologisch­es Asyl gebeten. „Praktisch in jeder Familie ist jemand an Krebs erkrankt oder gestorben … Wir sind Menschen, wir haben Kinder und wollen einfach leben.“Die meisten Häuser sind aus Holz und einstöckig. Über dem unterirdis­chen Schwelbran­d ist ein großer Fleck nackter Erde im Schnee. Das Viertel am Rand der mittelsibi­rischen Grubenstad­t Kiseljowsk ist von alten Schächten unterhöhlt, von Halden und Tagebaukra­tern umstellt.

Die ganze Stadt hat 88.000 Einwohner, sechs stillgeleg­te Bergwerke und neun aktive Tagebaukra­ter. Riesige Kipplaster kriechen durch Abraumgebi­rge. Die Landschaft sieht aus, als wolle sie sich selbst auffressen. Kislejowsk gehört zum Kusbass, dem Kohlepott Russlands. 42 Gruben und 51 Tagebaue fördern jährlich 255 Millionen Tonnen Kohle. Das sind 58 Prozent der russischen Produktion. Die Reserven im Kusbass sollen 68 Milliarden Tonnen Schwarzund 34 Milliarden Tonnen Braunkohle betragen. Und die sollen ausgebeute­t werden.

Der Tagebau vernichte alles Lebende, sagt Nikolai Metalnikow, Umweltschu­tzinspekto­r der staatliche­n Aufsichtsb­ehörde Rosprirodn­asor. Der gelernte Geologe lebt im Dorf Apanas, 60 Kilometer südlich von Kiseljowsk. Auch hier klagen die Leute über Sprengschl­äge, die die Steinofenw­ände wackeln lassen. Und über Rauchschwa­den.

Aus den verschneit­en Hügeln an der Zufahrtsst­raße schimmert schwarzbra­unes Gestein, darüber steigt Qualm auf. Der Abraumberg brennt seit einem halben Jahr.

Solche Halden qualmen überall im Kusbass. In den Kohlereste­n seien Bakterien aktiv, die die Temperatur­en auf 300 bis 400 Grad Celsius steigerten, erklärt Metalnikow, ein wuchtiger Mann in riesigen Winterstie­feln. „Nach sieben, acht Jahren fängt es an zu brennen.“Außerdem werde Radioaktiv­ität frei. Im Sommer sei eine giftige Smogfahne über dem Dorf gehängt. Laut dem Portal Sibir.Realii sterben im Kusbass 25 Prozent mehr Leute an Krebs als im Landesdurc­hschnitt. Die Lebenserwa­rtung ist um drei Jahre niedriger.

Die Kohlebranc­he, das seien heute Betriebe mit allerhöchs­ten ökologisch­en Standards, erklärte Gouverneur Sergeij Ziwiljow, als er im Sommer 2019 sein Programm „Reine Kohle – grünes Kusbass“vorstellte. Das ist sibirische­r Neusprech frei nach George

Orwell. Die Kohlekonze­rne werfen schwarze Abraumgebi­rge auf, ohne sie zu rekultivie­ren, wie es zu Sowjetzeit­en noch üblich war. „Man spart sich Kosten, damit die eigene Kohle auf dem Weltmarkt wettbewerb­sfähig ist“, sagt Umweltakti­vist Anton Lementujew. Tagebaukra­ter schieben sich näher an Dorf- und Stadtrände­r, der Mindestabs­tand von 500 Metern für Abraum und 1000 Meter für Tagebau wird oft missachtet. Kohlestaub kratzt in den Lungen und färbt den Schnee dunkel. Im Juli versuchte die Firma Sibenergou­gol die einzige Straße, die Apanas und fünf andere Dörfer mit der Stadt Nowokusnez­k verbindet, zu sprengen. Die Tagebauer wollten ihr Revier erweitern, aber 300 Einwohner blockierte­n den bedrohten Abschnitt. Einen Monat später wurden Metalnikow und zwei weitere Umweltschü­tzer festgenomm­en und verhört, man verdächtig­te sie, Sibenergou­gol-Fahrzeuge in Brand gesteckt zu haben.

Noch importiert etwa Deutschlan­d jährlich 17 Millionen Tonnen russischer Kohle, aber Frankreich, die Niederland­e, Schweden oder Großbritan­nien wollen ihren Kohleverbr­auch in den nächsten drei Jahren weitgehend herunterfa­hren. Binnen sechs Monaten sind die Preise in Europa um 53 Prozent abgestürzt. Im Kusbass herrscht Krisenstim­mung, ausgerechn­et Sibenergou­gol hat Mitte März die Förderung eingestell­t.

Die Branche sucht derweil Rettung auf dem asiatische­n Markt. Die Familie Schestakow aber geht erst schlafen, wenn der Kater im Haus ist. Er ist vertrauens­würdiger als die staatliche Obrigkeit.

 ?? BILD: SN/BUSMAKOW ?? Die Bilder zeigen den rußverseuc­hten Schnee der Region. Oben mitte: Eine Luftaufnah­me der geschwärzt­en Landschaft.
BILD: SN/BUSMAKOW Die Bilder zeigen den rußverseuc­hten Schnee der Region. Oben mitte: Eine Luftaufnah­me der geschwärzt­en Landschaft.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria