Wer fürchtet sich vorm schwarzen Schnee?
Ökologisches Katastrophengebiet. Die Kohleförderung in Sibirien soll auf Rekordumfänge steigen.
Der Kater habe nicht miaut, sondern laut geschrien, sagt Witali Schestakow. „Er hat meine Frau geweckt, ihr war übel, sie holte unsere Tochter aus dem Bett. Das Kind wurde bewusstlos.“Beide überlebten, landeten aber auf der Intensivstation: Kohlenmonoxidvergiftung. Das Kohlenmonoxid stammte aus glosender Kohle in einem vergessenen Schacht. Auf der Wiese am anderen Ende der Straße qualmte es schon vorher heftig. Stadtbeamte sprachen von einem Müllkippenbrand.
Die Menschen in Schestakows Wohngegend haben im Juni 2019 in einer Videobotschaft den kanadischen Premier Justin Trudeau um ökologisches Asyl gebeten. „Praktisch in jeder Familie ist jemand an Krebs erkrankt oder gestorben … Wir sind Menschen, wir haben Kinder und wollen einfach leben.“Die meisten Häuser sind aus Holz und einstöckig. Über dem unterirdischen Schwelbrand ist ein großer Fleck nackter Erde im Schnee. Das Viertel am Rand der mittelsibirischen Grubenstadt Kiseljowsk ist von alten Schächten unterhöhlt, von Halden und Tagebaukratern umstellt.
Die ganze Stadt hat 88.000 Einwohner, sechs stillgelegte Bergwerke und neun aktive Tagebaukrater. Riesige Kipplaster kriechen durch Abraumgebirge. Die Landschaft sieht aus, als wolle sie sich selbst auffressen. Kislejowsk gehört zum Kusbass, dem Kohlepott Russlands. 42 Gruben und 51 Tagebaue fördern jährlich 255 Millionen Tonnen Kohle. Das sind 58 Prozent der russischen Produktion. Die Reserven im Kusbass sollen 68 Milliarden Tonnen Schwarzund 34 Milliarden Tonnen Braunkohle betragen. Und die sollen ausgebeutet werden.
Der Tagebau vernichte alles Lebende, sagt Nikolai Metalnikow, Umweltschutzinspektor der staatlichen Aufsichtsbehörde Rosprirodnasor. Der gelernte Geologe lebt im Dorf Apanas, 60 Kilometer südlich von Kiseljowsk. Auch hier klagen die Leute über Sprengschläge, die die Steinofenwände wackeln lassen. Und über Rauchschwaden.
Aus den verschneiten Hügeln an der Zufahrtsstraße schimmert schwarzbraunes Gestein, darüber steigt Qualm auf. Der Abraumberg brennt seit einem halben Jahr.
Solche Halden qualmen überall im Kusbass. In den Kohleresten seien Bakterien aktiv, die die Temperaturen auf 300 bis 400 Grad Celsius steigerten, erklärt Metalnikow, ein wuchtiger Mann in riesigen Winterstiefeln. „Nach sieben, acht Jahren fängt es an zu brennen.“Außerdem werde Radioaktivität frei. Im Sommer sei eine giftige Smogfahne über dem Dorf gehängt. Laut dem Portal Sibir.Realii sterben im Kusbass 25 Prozent mehr Leute an Krebs als im Landesdurchschnitt. Die Lebenserwartung ist um drei Jahre niedriger.
Die Kohlebranche, das seien heute Betriebe mit allerhöchsten ökologischen Standards, erklärte Gouverneur Sergeij Ziwiljow, als er im Sommer 2019 sein Programm „Reine Kohle – grünes Kusbass“vorstellte. Das ist sibirischer Neusprech frei nach George
Orwell. Die Kohlekonzerne werfen schwarze Abraumgebirge auf, ohne sie zu rekultivieren, wie es zu Sowjetzeiten noch üblich war. „Man spart sich Kosten, damit die eigene Kohle auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist“, sagt Umweltaktivist Anton Lementujew. Tagebaukrater schieben sich näher an Dorf- und Stadtränder, der Mindestabstand von 500 Metern für Abraum und 1000 Meter für Tagebau wird oft missachtet. Kohlestaub kratzt in den Lungen und färbt den Schnee dunkel. Im Juli versuchte die Firma Sibenergougol die einzige Straße, die Apanas und fünf andere Dörfer mit der Stadt Nowokusnezk verbindet, zu sprengen. Die Tagebauer wollten ihr Revier erweitern, aber 300 Einwohner blockierten den bedrohten Abschnitt. Einen Monat später wurden Metalnikow und zwei weitere Umweltschützer festgenommen und verhört, man verdächtigte sie, Sibenergougol-Fahrzeuge in Brand gesteckt zu haben.
Noch importiert etwa Deutschland jährlich 17 Millionen Tonnen russischer Kohle, aber Frankreich, die Niederlande, Schweden oder Großbritannien wollen ihren Kohleverbrauch in den nächsten drei Jahren weitgehend herunterfahren. Binnen sechs Monaten sind die Preise in Europa um 53 Prozent abgestürzt. Im Kusbass herrscht Krisenstimmung, ausgerechnet Sibenergougol hat Mitte März die Förderung eingestellt.
Die Branche sucht derweil Rettung auf dem asiatischen Markt. Die Familie Schestakow aber geht erst schlafen, wenn der Kater im Haus ist. Er ist vertrauenswürdiger als die staatliche Obrigkeit.