Religiös leben jenseits des Opferdienstes
Wie die Kirchen ihren neuen Drang nach außen entdeckt haben. Und warum die Verantwortung für die eigene Spiritualität eine urchristliche Aufgabe ist.
Fieberhaft haben die Kirchen in den vergangenen Wochen nach neuen Formen von Seelsorge, Vernetzung oder digitalem Gebet gesucht. Dabei zeigte sich eine völlig neue Seite von Kirche: der Drang, nach außen zu gehen. Man verspürte den oftmals schon abgeschriebenen Mut, den Menschen „da draußen“neue Kanäle spiritueller Erfahrung näherzubringen.
Besonders für Religionsgemeinschaften, die in der versammelten Gemeinde oder dem gemeinsamen Kultgeschehen ihre Identifikation gewinnen, war und ist der Ausschluss der Gläubigen ein enormer Einschnitt. Es droht der Wegfall des gemeinschaftsstiftenden Charakters der Liturgie. Diese Situation ist aber keinesfalls ganz neu. Zeiten, in denen religiöse Gemeinschaften ihren Kult nicht ausüben konnten, gab es auch in der christlich-jüdischen Tradition. Etwa als das Volk Israel 597 v. Chr. nach Babylon verschleppt wurde und dort fast 60 Jahre leben musste – fernab vom Opferkult in ihrem Heiligtum, dem Tempel in Jerusalem. In dieser Zeit entstanden neue Arten religiöser Identität: Es wurden Texte geschrieben, Geschichten aufgezeichnet, die das Leben in der Fremde zum religiösen Glauben ins Verhältnis setzten. Rückblickend wurde die gemeinschaftliche Identität des Volkes Israel im Exil sogar noch gestärkt. Abseits des Tempels, ohne Opfer, richtete sich der Blick nach vorn und nach innen.
Auch in Zeiten von Corona sind die Menschen – noch stärker als sonst – als aktive Gestalter ihrer eigenen Spiritualität in die Verantwortung genommen. Diese Verantwortung sollte ein selbstbewusstes christliches Leben auch ohne Corona prägen. Den Alltag zu heiligen, die Spiritualität im Privaten zu entdecken, ist eine urchristliche Aufgabe, die möglicherweise schon lang vernachlässigt wurde.
Dabei haben die traditionellen Formen kirchlichen Lebens nicht einfach aufgehört. Die Eucharistie wird weiterhin gefeiert, der Gedanke des stellvertretenden Gebets oder Handelns gewinnt an Bedeutung. Viele Menschen blicken jetzt umso interessierter auf das gottesdienstliche
Geschehen in den Pfarren – gerade weil es nicht mehr selbstverständlich ist. Auch das Glockengeläut wird bewusster wahrgenommen. Auf diese Weise finden viele Menschen heuer in der österlichen Zeit bis Pfingsten neue Zugänge zu ihrer je eigenen Spiritualität.