Salzburger Nachrichten

Religiös leben jenseits des Opferdiens­tes

Wie die Kirchen ihren neuen Drang nach außen entdeckt haben. Und warum die Verantwort­ung für die eigene Spirituali­tät eine urchristli­che Aufgabe ist.

- ANDREAS G. WEISS

Fieberhaft haben die Kirchen in den vergangene­n Wochen nach neuen Formen von Seelsorge, Vernetzung oder digitalem Gebet gesucht. Dabei zeigte sich eine völlig neue Seite von Kirche: der Drang, nach außen zu gehen. Man verspürte den oftmals schon abgeschrie­benen Mut, den Menschen „da draußen“neue Kanäle spirituell­er Erfahrung näherzubri­ngen.

Besonders für Religionsg­emeinschaf­ten, die in der versammelt­en Gemeinde oder dem gemeinsame­n Kultgesche­hen ihre Identifika­tion gewinnen, war und ist der Ausschluss der Gläubigen ein enormer Einschnitt. Es droht der Wegfall des gemeinscha­ftsstiften­den Charakters der Liturgie. Diese Situation ist aber keinesfall­s ganz neu. Zeiten, in denen religiöse Gemeinscha­ften ihren Kult nicht ausüben konnten, gab es auch in der christlich-jüdischen Tradition. Etwa als das Volk Israel 597 v. Chr. nach Babylon verschlepp­t wurde und dort fast 60 Jahre leben musste – fernab vom Opferkult in ihrem Heiligtum, dem Tempel in Jerusalem. In dieser Zeit entstanden neue Arten religiöser Identität: Es wurden Texte geschriebe­n, Geschichte­n aufgezeich­net, die das Leben in der Fremde zum religiösen Glauben ins Verhältnis setzten. Rückblicke­nd wurde die gemeinscha­ftliche Identität des Volkes Israel im Exil sogar noch gestärkt. Abseits des Tempels, ohne Opfer, richtete sich der Blick nach vorn und nach innen.

Auch in Zeiten von Corona sind die Menschen – noch stärker als sonst – als aktive Gestalter ihrer eigenen Spirituali­tät in die Verantwort­ung genommen. Diese Verantwort­ung sollte ein selbstbewu­sstes christlich­es Leben auch ohne Corona prägen. Den Alltag zu heiligen, die Spirituali­tät im Privaten zu entdecken, ist eine urchristli­che Aufgabe, die möglicherw­eise schon lang vernachläs­sigt wurde.

Dabei haben die traditione­llen Formen kirchliche­n Lebens nicht einfach aufgehört. Die Eucharisti­e wird weiterhin gefeiert, der Gedanke des stellvertr­etenden Gebets oder Handelns gewinnt an Bedeutung. Viele Menschen blicken jetzt umso interessie­rter auf das gottesdien­stliche

Geschehen in den Pfarren – gerade weil es nicht mehr selbstvers­tändlich ist. Auch das Glockengel­äut wird bewusster wahrgenomm­en. Auf diese Weise finden viele Menschen heuer in der österliche­n Zeit bis Pfingsten neue Zugänge zu ihrer je eigenen Spirituali­tät.

 ??  ?? Andreas G. Weiß ist Theologe und pädagogisc­her Mitarbeite­r des KBW Salzburg. Jüngst ist sein Buch erschienen: „Glaubensdä­mmerung. Was wir glauben, wenn wir glauben“, 410 S., 28,90 Euro, Klöpfer/Narr 2020.
Andreas G. Weiß ist Theologe und pädagogisc­her Mitarbeite­r des KBW Salzburg. Jüngst ist sein Buch erschienen: „Glaubensdä­mmerung. Was wir glauben, wenn wir glauben“, 410 S., 28,90 Euro, Klöpfer/Narr 2020.

Newspapers in German

Newspapers from Austria