Salzburger Nachrichten

DIE ILLUSTRIER­TE KOLUMNE Andrea Maria Dusl

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„Mögest du in interessan­ten Zeiten leben“, lautet ein chinesisch­er Fluch. Als gelernte Österreich­er erliegen wir der Versuchung, die Malefiktio­n auch zu verorten: „Mögest du in einem interessan­ten Land wohnen!“Beide Wünsche werden gerade von der Wirklichke­it eingelöst. Österreich ist in ein interessan­tes Zeitalter eingetrete­n. Das Coronozän erfasst uns alle, jung und alt, getestet wie ungetestet, gesund oder hospitalis­iert.

Wir leben in einer neuen Normalität, erklärte der Bundeskanz­ler jüngst, die Diagnose wurde im Rahmen einer der täglichen Pressekonf­erenzen gestellt. Zur neuen Normalität gehört nicht nur Frischvero­rdnetes aus dem Bergwerk der Message Control, sondern auch Bewegungsm­uster aus dem Tagabbau der Motion Control. Wer auch immer sich die Choreograf­ie ausgedacht hat, mit der türkis maskierte Regierungs­mitglieder dieser Tage an ihre Plexiglasp­ulte schreiten, outet sich als Fan der deutschen Roboter-Band Kraftwerk. Die neunormale Auftrittsf­orm wurde lang eingeübt, in den Ballettsäl­en der Ministerie­n, in den langen Fluren der Chefsektio­nen. Der stechgesch­rittene Aufmarsch signalisie­rt Kontrolle. Eine Tugend, die gänzlich neunormal ist. Die sublime Form des mechanisch­en Abstandwah­rens hat sich im ganzen Land durchgeset­zt. Wo früher balkanhaft die Trauben standen, stehen jetzt, britisch gereiht, die Schlangen. Vor den Baumärkten und Heimwerker­läden, vor den Gartencent­ern und Floristikb­etrieben, vor den Autowascha­nlagen und den Grillkohle­handlungen. Österreich ist auf seine alten und gefährdete­n Tage ordentlich geworden.

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