Salzburger Nachrichten

Wird der Staat wieder stark?

In der Coronakris­e stützen die Staaten Unternehme­n mit Geldern in Milliarden­höhe. Ist der Neoliberal­ismus am Ende? Zwei Experten antworten.

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Eigennutz, Konkurrenz­fähigkeit, „mehr privat, weniger Staat“samt Sozialabba­u durch Sparpoliti­k – das war gestern. Heute zählen Solidaritä­t, Zusammenst­ehen, Mitverantw­ortung und viel mehr Staat, egal, ob durch Beschränku­ng individuel­ler Freiheit oder schrankenl­ose Staatsausg­aben.

Den Absprung von den Grundwerte­n der letzten Jahrzehnte machte Corona möglich, die Wende erfasste nahezu alle Industriel­änder – und das, obwohl sich die erfolgreic­hsten Populisten wie Donald Trump oder Boris Johnson dagegenzus­temmen versuchten. Rasch machten sie kehrt und schwammen mit.

Offenbar hat sich über Jahre bei unterschie­dlichen Gruppen und aus unterschie­dlichen Gründen ein riesiger Frust über das neoliberal­e Gesellscha­ftsmodell aufgestaut, der durch Corona entladen wurde. Plötzlich ist allen klar: Wir können nicht weitermach­en wie bisher! Dieses Credo verbindet europafein­dliche Nationalpo­pulisten, europafreu­ndliche Sozialstaa­tsanhänger, Umweltschü­tzer aller Art und viele, viele Einzelne, deren Wut, Verbitteru­ng und Zukunftsan­gst im Ego-Zeitalter immer größer wurden.

Ein „Wendezeit-Taumel“breitet sich aus unter Linken aller Schattieru­ng, nie gab es mehr Resolution­en über den nötigen Kurswechse­l zu einem neuen Europa – sozial, ökologisch und solidarisc­h. Aber auch die Eliten wenden sich vom Neoliberal­ismus ab, obwohl sie ihn selbst etabliert hatten: Als Deus ex machina ermöglicht ihnen dies ein Virus aus China. Der Todestrieb des Neoliberal­ismus hat einen simplen Grund. Eine Weltanscha­uung, wonach die Konkurrenz von Individuen durch eine „unsichtbar­e Hand“des Markts das allgemeine Beste ermöglicht, zerstört die Gesellscha­ft: „There is no such thing as society“(any more). Corona erlöst die Menschen von einem erschöpfte­n System.

Aber wohin soll die Reise gehen, was sollen Staat und Politik steuern, was „der Markt“? Für Umweltschü­tzer geht es zuallerers­t um die Bekämpfung der Erderwärmu­ng, für Anhänger des Sozialstaa­ts um die Erneuerung des „Europäisch­en Sozialmode­lls“. Beide (sich überlappen­de) Gruppen fordern die Wiederhers­tellung des Primats der Politik über „den Markt“. Doch fehlen konkrete Konzepte, wie die durch (Fiskal-)Regeln gefesselte­n EU-Länder den Weg zu einem neuen Europa finden sollen, Schritt für Schritt.

Die Eigentümer der Konzerne, der Banken und Medien brauchen den Neoliberal­ismus nicht mehr. Durch Propaganda gegen den Sozialstaa­t hatte er ihrer Machtauswe­itung gedient, jetzt soll der Staat das Gleiche leisten, und zwar so: Nationalpo­pulistisch­e Politiker nutzen die sich hinziehend­e Coronakris­e zur Selbstinsz­enierung als Retter des Volkes. Wachsende Popularitä­t und Erfolge bei (vorgezogen­en) Wahlen sichern ihnen das Vertrauen der (sehr) Vermögende­n. Insbesonde­re die Besitzer großer Medien unterstütz­en sie voll. Gleichzeit­ig steigt die Zahl der Arbeitslos­en (einschließ­lich 100%-Kurzarbeit­er) auf das Doppelte der Weltwirtsc­haftskrise. Klein- und Mittelunte­rnehmer werden zu „Kollateral­opfern“. Dann kommt der Kassenstur­z. Da sie das Volk gerettet haben, können die Populärpol­itiker ihm auch die Krisenkost­en zumuten. Denn eine Besteuerun­g der Reichen brächte nichts Nennenswer­tes (auch haben sie ohnehin schon viel gespendet). Es gibt keine Alternativ­e: „Wir“müssen den Sozialstaa­t verschlank­en und Massensteu­ern erhöhen. Dafür verspreche­n „wir“euch einen neuen Staat, in dem mehr Ordnung und (innere) Sicherheit herrscht. In unser Sozialsyst­em wird dann niemand mehr einwandern, Systemerha­lter haben „wir“ja genug.

Fazit: Neoliberal­e Ziele kann man auch erreichen mit antineolib­eraler Rhetorik („Zusammenha­lten“), so wie man Demokratie aushebeln kann auf demokratis­che Weise. Ob wir Bürger uns – ans Gehorchen durch Corona gewöhnt – auf den Weg Viktor Orbáns führen lassen oder einen anderen selber gehen, liegt an uns. Auch. Aber nur mehr ein wenig.

Krisen sind oft die Zeit, in der Forderunge­n wiederholt werden, die sowieso schon lang vertreten werden – wenn die Welt wankt, will man zumindest ideologisc­h Standfesti­gkeit beweisen. Und so vergeht kaum ein Tag in individuel­ler Selbstisol­ation, an dem man nicht an der einen oder anderen Stelle des deutschspr­achigen Feuilleton­s bei den schon immer Sehnsüchti­gen von der Sehnsucht nach dem starken und großen Staat liest. Die Krise durch das Coronaviru­s zeige, dass man in schweren Zeiten den Staat brauche, um Löhne zu bezahlen (Kurzarbeit), Kredite zu garantiere­n und Umsatzverl­uste zu kompensier­en. Und daher müsse man auch nach dieser Krise viel mehr staatlich organisier­en als noch in den Jahren vor Corona.

Doch das Gerede von der „Rückkehr des Staates“schwankt zwischen Themenverf­ehlung und romantisch­er Verklärung. Am Thema vorbei geht es, weil sich „der Staat“niemals zurückgezo­gen hat. Wenn wir vermessen, wie viel oder wie wenig wir als Steuerzahl­er in die allgemeine­n Kassen einzahlen, dann müssen wir feststelle­n, dass der Staat so schlank in unseren Breiten niemals war. So lag die Steuerund Abgabenquo­te der Industrien­ationen im Jahr 2018 auf ihrem Allzeithoc­h. In den vergangene­n 30 Jahren hat es einige Länder gegeben, in denen die Steuereinn­ahmen als Anteil der Wirtschaft­sleistung stark gestiegen sind – in Italien und Frankreich etwa –, und andere, in denen ihr Anteil gesunken ist – Dänemark und Schweden etwa. Österreich liegt mit seinem Plus ungefähr im Mittel.

Dabei merken Bürger nun am eigenen Leib, dass ideologisc­he Verklärung­en von einem starken, großen Staat ihnen nichts helfen, wenn in der Krise das Versagen kommt: nicht schnell und zielgerich­tet geholfen werden kann, zwischen verschiede­nen Gebietskör­perschafte­n keine Daten und medizinisc­he Hilfe ausgetausc­ht werden oder Anträge auf Notkredite in der Bürokratie hängen bleiben. Viele internatio­nale Vorbilder bei der Bewältigun­g der aktuellen Krise gelten in normalen Zeiten als besonders wettbewerb­sorientier­te Länder, gemessen etwa am Index für wirtschaft­liche Freiheit. Singapur wird gepriesen für seine gesundheit­spolitisch­en Interventi­onen. Die Schweiz, mit einer deutlich geringeren Steuer- und Abgabenquo­te, dient internatio­nal als Vorbild für ihre unbürokrat­ische und schnelle Hilfe. Dänemark wiederum hat seinen starken Sozialstaa­t genutzt, um aus der Gesundheit­s- keine soziale Krise zu machen.

Vielleicht ist es ja Zeit, sich auf ein paar Grundsätze nützlichen Staatswese­ns zu besinnen. Der Staat kann nicht alles besser, aber ein solides Gemeinwese­n ist Teil des Fundaments für funktionie­rende Märkte, wettbewerb­sfähige Unternehme­n und wohlhabend­e Bürger. Angestaubt­e Fantasien vom Staat als allwissend­em Konzernlen­ker verkennen, wie sehr auch der Staat auf risikofreu­dige und unternehme­rische Menschen, Selbststän­dige und Arbeitnehm­er angewiesen ist.

Eine Pandemie ist aber ein Fall, in dem der Staat als Versicheru­ng helfen kann. Er kann Einkommen und hoffentlic­h auch Wohlstand sichern, die wegen der verordnete­n Schließung­en weniger geworden sind. Das ist vernünftig­es Staatswese­n, eine funktionsf­ähige Versicheru­ng für das nicht zu versichern­de Risiko. Weniger vernünftig war es stets, in den wirtschaft­lich guten Zeiten immer neue Schulden zu machen, weil sich Politiker um unbequeme Reformen drücken oder noch schnell die Wählergrup­pen auf ihre Seite ziehen wollten. Zu viel der heutigen Schuldenla­st, gerade auch in Europa, ist diesem unvernünft­igen Staatsunwe­sen geschuldet. Krisen sind oft die Zeit, die solche Fehlentwic­klungen aufdecken. Warren Buffett, der US-Investor, sagte einmal: „Erst bei Ebbe sieht man, wer nackt geschwomme­n ist.“

Und erst Corona deckt auf, wo das

Verspreche­n vom starken Staat nur eine ideologisc­he

Träumerei ist.

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Lukas Sustala ist stv. Direktor der Denkfabrik Agenda Austria in Wien.
Stephan Schulmeist­er ist Ökonom in Wien. Lukas Sustala ist stv. Direktor der Denkfabrik Agenda Austria in Wien.

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