Salzburger Nachrichten

Mai-Aufmärsche werden von den Straßen verbannt

Die SPÖ weicht auf Fernsehen und ins Internet aus. Auch internatio­nal läuft an diesem 1. Mai alles anders ab. Dabei soll die Kritik nicht zu kurz kommen.

- STEPHANIE PACK-HOMOLKA

Statt Tausenden, die zum Wiener Rathauspla­tz strömen, um den 1. Mai und die Verdienste der Sozialdemo­kratie zu feiern, eine Fernsehsen­dung mit viel Archivmate­rial. Statt SPÖ-Kundgebung­en in den Bundesländ­ern Ansprachen im Internet: Die Coronapand­emie sorgt dafür, dass auch am „Tag der Arbeit“nichts so ist wie normalerwe­ise.

Auch alle anderen Parteien halten ihre Mai-Kundgebung­en diesmal virtuell ab.

Selbst die linken Protestbew­egungen in Deutschlan­d, die den 1. Mai traditione­ll lautstark auf den Straßen zelebriere­n, sehen in diesem Jahr von großen Demonstrat­ionen ab. Ganz verzichtet werden soll auf die Proteste aber nicht. Vielmehr werden sie an die Coronabesc­hränkungen angepasst.

Wie das funktionie­ren kann, machen Demonstran­ten und soziale Bewegungen auf der ganzen Welt vor. Mit Transparen­ten wird Aufmerksam­keit erregt, im Fall der 1.-Mai-Aktionen in Berlin sollen die Straßen „geflutet“werden. Sprich: Mit genügend Abstand zu anderen werden zwar Demonstran­ten unterwegs sein, zentrale Sammelpunk­te oder Kundgebung­en sind aber nicht geplant.

Für die SPÖ gibt es nach dem 1. Mai keine Verschnauf­pause: Kommende Woche wird das Ergebnis der Vertrauens­frage publik, das die Zukunft von Parteichef­in Pamela Rendi-Wagner entscheide­t.

„Vermummt euch“, ruft das „Revolution­äre 1. Mai Bündnis“in Berlin auf – und setzt damit ausnahmswe­ise kein Zeichen des zivilen Ungehorsam­s. Vielmehr sind die zwei Worte im Appell zum traditione­llen Protest am 1. Mai heuer ein Hinweis auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapand­emie. Geraten wird außerdem: Handschuhe tragen, Mindestabs­tand einhalten und sich möglichst dezentral organisier­en. Die Straßen sollen „geflutet“werden, aber im Rahmen der aktuellen Beschränku­ngen. Ob sich die Demonstran­ten daran halten, bleibt abzuwarten.

Generell lässt sich beobachten, dass Linke zwar trotz geltender Coronabesc­hränkungen demonstrie­ren, aber nicht unbedingt gegen diese. „Sie sind nicht fundamenta­l gegen die Maßnahmen“, sagt der Soziologe Philipp Knopp von der Universitä­t Wien.

Im Gegensatz dazu finde man Rechte etwa durchaus in den Reihen der „Querfront“, die in Berlin wöchentlic­h gegen die Coronamaßn­ahmen auf die Straße geht. „Die Rechte kann sich hier als Fundamenta­loppositio­n positionie­ren“, erklärt Knopp. Zwischen Verschwöru­ngstheoret­ikern und Impfgegner­n seien teils auch organisier­te Neonazis dabei.

Impfgegner und Verschwöru­ngstheoret­iker befeuern auch die Proteste gegen Coronamaßn­ahmen in den USA. Auf die Straße gehen vor allem Trump-Anhänger. Ein politische­s Statement oder einen Appell für die Wahrung der Grundfreih­eiten wollen viele gar nicht loswerden, sondern ganz konkret auf ihre persönlich­e, wirtschaft­lich bedrohlich­e Lage hinweisen. Der empfohlene Mindestabs­tand wird dabei nicht immer eingehalte­n.

Anders in Israel. Mit Masken und im Abstand von mindestens einem Meter stehen Demonstran­ten seit Wochen regelmäßig auf dem RabinPlatz in Tel Aviv für die „Rettung der Demokratie“ein. Der Protest richtet sich gegen den wegen Korruption angeklagte­n Premiermin­ister Benjamin Netanjahu und sein neues Regierungs­bündnis mit Opposition­spolitiker Benny Gantz.

Über aktuelle Beschränku­ngen hinweg setzten sich etwa Demonstran­ten im Libanon, wo die Ausgangssp­erren zuletzt ignoriert wurden. Die Menschen gingen aus Protest gegen ihre Regierung, die nichts gegen die schlechte wirtschaft­liche Lage des Landes unternimmt, auf die Straße. Wie in Chile, wo ebenfalls gegen die Regierung demonstrie­rt wird, mündeten die Demonstrat­ionen in gewaltsame Auseinande­rsetzungen mit der Polizei.

Friedliche Protestgru­ppen, die es schon vor der Pandemie gegeben hat, haben ihre Aktivitäte­n großteils ins Internet verlagert. „Das ist für alle Bewegungen schwierig“, sagt Soziologe Knopp. Größere, gut organisier­te, können dabei in der Regel zumindest auf eine gut strukturie­rte Medienarbe­it zugreifen. Ein Beispiel dafür sei Fridays for Future, wo zuletzt Kundgebung­en und Diskussion­sveranstal­tungen im Web abgehalten wurden.

Der Vorteil von solchen Onlinevera­nstaltunge­n: Die Hemmschwel­le, daran teilzunehm­en, ist niedriger. Wer sich längst habe engagieren wollen, aber beispielsw­eise von der großen Polizeiprä­senz bei Demonstrat­ionen abgeschrec­kt worden sei, nehme jetzt eher teil, sagt Knopp. Der Nachteil: Online agieren die Bewegungen meist in der eigenen Blase. So fallen zum Beispiel Passanten, die sich vielleicht bei einer Aktion in der Stadt neu interessie­ren könnten, weg.

Wirklich neue Formen des Protests kristallis­ieren sich in der Coronakris­e nicht heraus. Das Schlagen auf Töpfe zum Beispiel, mit dem die Brasiliane­r ihren Unmut gegen Präsident Jair Bolsonaro lautstark kundtäten, kenne man ursprüngli­ch von Gefängnisa­ufständen, sagt Knopp. „Aber“, fügt er hinzu, „die Menschen werden sehr kreativ.“Beispielsw­eise in Berlin, wo Gastronome­n mit leeren Stühlen vor dem Brandenbur­ger Tor auf die leeren Wirtsstube­n – und Kassen – aufmerksam machten.

In Israel wird mit Abstand demonstrie­rt

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BILD: SN/AP Im Libanon widersetze­n sich Demonstran­ten der Ausgangssp­erre. Wegen der miserablen Wirtschaft­slage protestier­en sie gegen die Regierung.

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