Mai-Aufmärsche werden von den Straßen verbannt
Die SPÖ weicht auf Fernsehen und ins Internet aus. Auch international läuft an diesem 1. Mai alles anders ab. Dabei soll die Kritik nicht zu kurz kommen.
Statt Tausenden, die zum Wiener Rathausplatz strömen, um den 1. Mai und die Verdienste der Sozialdemokratie zu feiern, eine Fernsehsendung mit viel Archivmaterial. Statt SPÖ-Kundgebungen in den Bundesländern Ansprachen im Internet: Die Coronapandemie sorgt dafür, dass auch am „Tag der Arbeit“nichts so ist wie normalerweise.
Auch alle anderen Parteien halten ihre Mai-Kundgebungen diesmal virtuell ab.
Selbst die linken Protestbewegungen in Deutschland, die den 1. Mai traditionell lautstark auf den Straßen zelebrieren, sehen in diesem Jahr von großen Demonstrationen ab. Ganz verzichtet werden soll auf die Proteste aber nicht. Vielmehr werden sie an die Coronabeschränkungen angepasst.
Wie das funktionieren kann, machen Demonstranten und soziale Bewegungen auf der ganzen Welt vor. Mit Transparenten wird Aufmerksamkeit erregt, im Fall der 1.-Mai-Aktionen in Berlin sollen die Straßen „geflutet“werden. Sprich: Mit genügend Abstand zu anderen werden zwar Demonstranten unterwegs sein, zentrale Sammelpunkte oder Kundgebungen sind aber nicht geplant.
Für die SPÖ gibt es nach dem 1. Mai keine Verschnaufpause: Kommende Woche wird das Ergebnis der Vertrauensfrage publik, das die Zukunft von Parteichefin Pamela Rendi-Wagner entscheidet.
„Vermummt euch“, ruft das „Revolutionäre 1. Mai Bündnis“in Berlin auf – und setzt damit ausnahmsweise kein Zeichen des zivilen Ungehorsams. Vielmehr sind die zwei Worte im Appell zum traditionellen Protest am 1. Mai heuer ein Hinweis auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Geraten wird außerdem: Handschuhe tragen, Mindestabstand einhalten und sich möglichst dezentral organisieren. Die Straßen sollen „geflutet“werden, aber im Rahmen der aktuellen Beschränkungen. Ob sich die Demonstranten daran halten, bleibt abzuwarten.
Generell lässt sich beobachten, dass Linke zwar trotz geltender Coronabeschränkungen demonstrieren, aber nicht unbedingt gegen diese. „Sie sind nicht fundamental gegen die Maßnahmen“, sagt der Soziologe Philipp Knopp von der Universität Wien.
Im Gegensatz dazu finde man Rechte etwa durchaus in den Reihen der „Querfront“, die in Berlin wöchentlich gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße geht. „Die Rechte kann sich hier als Fundamentalopposition positionieren“, erklärt Knopp. Zwischen Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern seien teils auch organisierte Neonazis dabei.
Impfgegner und Verschwörungstheoretiker befeuern auch die Proteste gegen Coronamaßnahmen in den USA. Auf die Straße gehen vor allem Trump-Anhänger. Ein politisches Statement oder einen Appell für die Wahrung der Grundfreiheiten wollen viele gar nicht loswerden, sondern ganz konkret auf ihre persönliche, wirtschaftlich bedrohliche Lage hinweisen. Der empfohlene Mindestabstand wird dabei nicht immer eingehalten.
Anders in Israel. Mit Masken und im Abstand von mindestens einem Meter stehen Demonstranten seit Wochen regelmäßig auf dem RabinPlatz in Tel Aviv für die „Rettung der Demokratie“ein. Der Protest richtet sich gegen den wegen Korruption angeklagten Premierminister Benjamin Netanjahu und sein neues Regierungsbündnis mit Oppositionspolitiker Benny Gantz.
Über aktuelle Beschränkungen hinweg setzten sich etwa Demonstranten im Libanon, wo die Ausgangssperren zuletzt ignoriert wurden. Die Menschen gingen aus Protest gegen ihre Regierung, die nichts gegen die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes unternimmt, auf die Straße. Wie in Chile, wo ebenfalls gegen die Regierung demonstriert wird, mündeten die Demonstrationen in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Friedliche Protestgruppen, die es schon vor der Pandemie gegeben hat, haben ihre Aktivitäten großteils ins Internet verlagert. „Das ist für alle Bewegungen schwierig“, sagt Soziologe Knopp. Größere, gut organisierte, können dabei in der Regel zumindest auf eine gut strukturierte Medienarbeit zugreifen. Ein Beispiel dafür sei Fridays for Future, wo zuletzt Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen im Web abgehalten wurden.
Der Vorteil von solchen Onlineveranstaltungen: Die Hemmschwelle, daran teilzunehmen, ist niedriger. Wer sich längst habe engagieren wollen, aber beispielsweise von der großen Polizeipräsenz bei Demonstrationen abgeschreckt worden sei, nehme jetzt eher teil, sagt Knopp. Der Nachteil: Online agieren die Bewegungen meist in der eigenen Blase. So fallen zum Beispiel Passanten, die sich vielleicht bei einer Aktion in der Stadt neu interessieren könnten, weg.
Wirklich neue Formen des Protests kristallisieren sich in der Coronakrise nicht heraus. Das Schlagen auf Töpfe zum Beispiel, mit dem die Brasilianer ihren Unmut gegen Präsident Jair Bolsonaro lautstark kundtäten, kenne man ursprünglich von Gefängnisaufständen, sagt Knopp. „Aber“, fügt er hinzu, „die Menschen werden sehr kreativ.“Beispielsweise in Berlin, wo Gastronomen mit leeren Stühlen vor dem Brandenburger Tor auf die leeren Wirtsstuben – und Kassen – aufmerksam machten.
In Israel wird mit Abstand demonstriert