Salzburger Nachrichten

„Vielleicht sind wir ein wenig naiv“

Dass Schweden seinen eigenen Weg geht, ist nicht erst seit Corona so. Ethnologe Richard Tellström erklärt, woher die Vorliebe für Extrawürst­e kommt.

-

In Schweden feiert man heute Walpurgis, das Fest zur Ankunft des Frühlings, und des Königs Geburtstag – eigentlich. Denn dieses Jahr durchkreuz­t Corona alle Pläne. Dass Schweden im Umgang mit dem Virus einen anderen Weg gewählt hat als andere Länder, folgt einer gewissen Tradition. Auch bei den Themen Gleichbere­chtigung, Klimaschut­z und Nachhaltig­keit hat das Land seine eigenen Vorstellun­gen.

SN: Warum macht Schweden so oft alles anders?

Richard Tellström: Dafür gibt es historisch­e Gründe. Wir hatten sehr früh autarke, freie Bauern, die ihre Äcker selbst besaßen. Das hat bewirkt, dass der Staat eine andere Art von Dialog mit diesen Menschen geführt hat. Das ist sicher ein Teil der Erklärung. Ein anderer ist, dass wir in Schweden seit 200 Jahren keinen Krieg hatten. Wir haben die europäisch­e Kriegsszen­erie nach dem napoleonis­chen Krieg 1814 verlassen.

SN: Was hat das bewirkt?

Wir haben unseren Staat ziemlich isoliert aufgebaut. Es gibt da auch ein Wort, das oft scherzhaft gebraucht wird, aber es ist was Wahres dran: Wir sind friedensge­schädigt.

SN: Was für ein Schaden kann das sein?

Es bedeutet, dass wir ein wenig naiv sind, ein bisschen ahnungslos, den

Ernst einer Lage nicht gleich erkennen. Dass wir nicht gleich einsehen, wie gefährlich etwas sein kann. Und unsere Art, Probleme zu lösen, ist eine andere. Wir glauben an die Diskussion und das Gespräch.

Da gibt es noch ein zweites Wort, das wichtig ist, um die schwedisch­e Mentalität zu verstehen: Konsens. Das ist das Ziel aller Gespräche, sei es in der Politik, am Arbeitspla­tz oder im privaten Bereich. Was jetzt in der Coronakris­e passiert, könnte man auch einen Konsens-Dialog bezeichnen zwischen den Bürgern und dem Staat.

Was mir noch wichtig erscheint: Im 19. Jahrhunder­t, aber vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich Schweden entschiede­n, nicht Teil einer Verteidigu­ngsallianz zu werden. Wir wurden nicht Mitglied der NATO und wir waren nicht dabei, als die europäisch­e Gemeinscha­ft gebildet wurde. Unseren eigenen Weg zu gehen sind wir also gewöhnt.

SN: In Schweden gibt es in der Coronakris­e kaum Verbote, nur Empfehlung­en. Warum?

Vielleicht war die Regierung zu schwach, um harte Maßnahmen zu verordnen. Vielleicht hat es aber auch mit diesem Wort „friedensge­schädigt“zu tun. Wir sind Krisen ganz einfach nicht gewöhnt.

SN: Würde Österreich­s Strategie in Schweden funktionie­ren?

Nein. Und umgekehrt auch nicht. Ich glaube, Österreich­er legen mehr

Wert auf ihre individuel­le Freiheit. Um sie zu begrenzen, muss man sie gesetzlich einschränk­en. In Schweden genügen Empfehlung­en. In Österreich, Deutschlan­d oder auch Frankreich will das Individuum große Freiheit und dass der Staat sich da raushält. Diese Länder haben Kriege erfahren und ihre Bürger, dass man sich manchmal nur auf sich selbst verlassen kann. Das ist in Schweden anders: Wir wollen den Staat nah an unserer Freiheit. Er ist der Wächter unserer kollektive­n Freiheit.

 ??  ?? Richard Tellström ist Ethnologe an der Universitä­t Stockholm.
Richard Tellström ist Ethnologe an der Universitä­t Stockholm.

Newspapers in German

Newspapers from Austria