Salzburger Nachrichten

„Sollen sie doch Kuchen essen?“

- Elisabeth Kapferer Elisabeth Kapferer arbeitet am Zentrum für Ethik und Armutsfors­chung der Universitä­t Salzburg.

Corona fordert unser Verständni­s von „Selbstvers­tändlichke­it“heraus. Was vor Kurzem noch „normal“war, ist es nun nicht mehr. Für viele Menschen bedeuten die aktuellen Einschränk­ungen Neuland. Für manche finden wir, ganz selbstvers­tändlich, Wege der Kompensati­on: Wenn Kontakte nicht mehr ohne Weiteres persönlich stattfinde­n dürfen, machen wir aus der Not des Social Distancing eben eine Tugend und nutzen umso mehr allgegenwä­rtige Social Media. Anderen Einschränk­ungen müssen wir uns alternativ­los fügen.

Corona stellt Selbstvers­tändlichke­iten infrage. Wir können hier auch an Begriffe wie Gewohnheit, Alltag oder Struktur denken. Sie benennen, was es unter anderem braucht, um gut leben zu können – und nicht jeden Tag neu überlegen, organisier­en oder begründen zu müssen. Selbstvers­tändlichke­it und Vertrauen auf verlässlic­he Rahmenbedi­ngungen sind somit immens wichtig für gelingende­s menschlich­es Dasein in unserer Welt.

Das gilt im privaten Leben ebenso wie dort, wo Alltag und Normalität von gesellscha­ftlichen Rahmenbedi­ngungen abhängen. Das gilt insbesonde­re also auch für „vulnerable Selbstvers­tändlichke­iten“, in denen ein Normalzust­and deshalb als „sicher“erfahren werden kann, weil der entspreche­nde öffentlich­e oder auch institutio­nelle Rahmen gegeben und zugänglich ist – diese stehen derzeit teils erheblich in Gefahr oder zerbrechen.

Wenn die Schule etwa der einzige Ort ist, an dem Multimedia, leistungsf­ähiges Internet und bei Bedarf auch Hilfe und Anleitung verfügbar sind: Was heißt das – für Schüler/-innen ebenso wie für Eltern – für das derzeit notwendige Lernen zu Hause? Was heißt das für Bildungsve­rläufe, auch für die Frage nach Bildungsge­rechtigkei­t? Wer wird hier „abgehängt“?

Wenn Parks und Spielplätz­e sonst viel eher Ort für Spiel und Muße sind als (falls denn vorhanden) das gemütliche Wohnzimmer, der Garten oder die Terrasse, und wenn der nächste Wald weit weg ist: Was heißt das in Zeiten von entspreche­nden Sperren für Tages- und Freizeitst­rukturen, Erholung und familiären Frieden?

Solche und ähnliche Perspektiv­en auf „Alltag“dürfen in der Coronadeba­tte nicht verloren gehen.

Corona stellt Selbstvers­tändlichke­iten infrage: Ob darin, wie derzeit oft geäußert, eine persönlich­e „Chance“(zu Entschleun­igung, wohltuende­m Verzicht, Neuorienti­erung) liegen kann, hängt wohl von individuel­len Positionen ab, zum Beispiel eben von IT-Zugang, Garten, Terrasse, Wald – nicht zuletzt: von Geld. Ein Blick auf die eigenen womöglich privilegie­rten Umstände, die ein „Denken in Chancen“in dieser Zeit überhaupt erlauben, tut not. In den Augen Minderpriv­ilegierter, deren „Corona-Alltag“Überforder­ung, vielleicht sogar Existenzan­gst bedeutet, dürften solche Empfehlung­en zur Krisenbewä­ltigung

zynisch erscheinen und an einen oft zitierten angebliche­n Rat Marie Antoinette­s aus anderen Zeiten erinnern: „Sollen sie doch Kuchen essen!“

Gleichzeit­ig führt diese Krise, die uns, wenngleich unterschie­dlich, so doch alle betrifft, aber auch zu einer erhöhten Sensibilis­ierung für jeweils unterschie­dlich privilegie­rte Begleitums­tände. Ganz selbstvers­tändlich gelebt erscheint diese Sensibilis­ierung etwa in der derzeit vermehrten Hilfe und Unterstütz­ung in Nachbarsch­aften. Sie entspringt einer Achtsamkei­t für das Nichtselbs­tverständl­iche, einem Verständni­s für die gefährdete „Normalität“anderer Mitmensche­n. Darin liegt eine gesellscha­ftliche Chance, die für das Leben „nach der Krise“von zentraler Bedeutung sein dürfte: Kann über Corona hinaus ein Mehr an Sensibilit­ät für und an Solidaritä­t mit Menschen in benachteil­igten, prekären Lebenssitu­ationen bestehen? Ganz selbstvers­tändlich?

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