„Sollen sie doch Kuchen essen?“
Corona fordert unser Verständnis von „Selbstverständlichkeit“heraus. Was vor Kurzem noch „normal“war, ist es nun nicht mehr. Für viele Menschen bedeuten die aktuellen Einschränkungen Neuland. Für manche finden wir, ganz selbstverständlich, Wege der Kompensation: Wenn Kontakte nicht mehr ohne Weiteres persönlich stattfinden dürfen, machen wir aus der Not des Social Distancing eben eine Tugend und nutzen umso mehr allgegenwärtige Social Media. Anderen Einschränkungen müssen wir uns alternativlos fügen.
Corona stellt Selbstverständlichkeiten infrage. Wir können hier auch an Begriffe wie Gewohnheit, Alltag oder Struktur denken. Sie benennen, was es unter anderem braucht, um gut leben zu können – und nicht jeden Tag neu überlegen, organisieren oder begründen zu müssen. Selbstverständlichkeit und Vertrauen auf verlässliche Rahmenbedingungen sind somit immens wichtig für gelingendes menschliches Dasein in unserer Welt.
Das gilt im privaten Leben ebenso wie dort, wo Alltag und Normalität von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen. Das gilt insbesondere also auch für „vulnerable Selbstverständlichkeiten“, in denen ein Normalzustand deshalb als „sicher“erfahren werden kann, weil der entsprechende öffentliche oder auch institutionelle Rahmen gegeben und zugänglich ist – diese stehen derzeit teils erheblich in Gefahr oder zerbrechen.
Wenn die Schule etwa der einzige Ort ist, an dem Multimedia, leistungsfähiges Internet und bei Bedarf auch Hilfe und Anleitung verfügbar sind: Was heißt das – für Schüler/-innen ebenso wie für Eltern – für das derzeit notwendige Lernen zu Hause? Was heißt das für Bildungsverläufe, auch für die Frage nach Bildungsgerechtigkeit? Wer wird hier „abgehängt“?
Wenn Parks und Spielplätze sonst viel eher Ort für Spiel und Muße sind als (falls denn vorhanden) das gemütliche Wohnzimmer, der Garten oder die Terrasse, und wenn der nächste Wald weit weg ist: Was heißt das in Zeiten von entsprechenden Sperren für Tages- und Freizeitstrukturen, Erholung und familiären Frieden?
Solche und ähnliche Perspektiven auf „Alltag“dürfen in der Coronadebatte nicht verloren gehen.
Corona stellt Selbstverständlichkeiten infrage: Ob darin, wie derzeit oft geäußert, eine persönliche „Chance“(zu Entschleunigung, wohltuendem Verzicht, Neuorientierung) liegen kann, hängt wohl von individuellen Positionen ab, zum Beispiel eben von IT-Zugang, Garten, Terrasse, Wald – nicht zuletzt: von Geld. Ein Blick auf die eigenen womöglich privilegierten Umstände, die ein „Denken in Chancen“in dieser Zeit überhaupt erlauben, tut not. In den Augen Minderprivilegierter, deren „Corona-Alltag“Überforderung, vielleicht sogar Existenzangst bedeutet, dürften solche Empfehlungen zur Krisenbewältigung
zynisch erscheinen und an einen oft zitierten angeblichen Rat Marie Antoinettes aus anderen Zeiten erinnern: „Sollen sie doch Kuchen essen!“
Gleichzeitig führt diese Krise, die uns, wenngleich unterschiedlich, so doch alle betrifft, aber auch zu einer erhöhten Sensibilisierung für jeweils unterschiedlich privilegierte Begleitumstände. Ganz selbstverständlich gelebt erscheint diese Sensibilisierung etwa in der derzeit vermehrten Hilfe und Unterstützung in Nachbarschaften. Sie entspringt einer Achtsamkeit für das Nichtselbstverständliche, einem Verständnis für die gefährdete „Normalität“anderer Mitmenschen. Darin liegt eine gesellschaftliche Chance, die für das Leben „nach der Krise“von zentraler Bedeutung sein dürfte: Kann über Corona hinaus ein Mehr an Sensibilität für und an Solidarität mit Menschen in benachteiligten, prekären Lebenssituationen bestehen? Ganz selbstverständlich?