Salzburger Nachrichten

Der amerikanis­che Patient

Gemessen an seiner Wirtschaft­sleistung gibt es kaum ein Land, das so viel Geld für medizinisc­he Versorgung ausgibt wie die USA. Woran krankt es dann?

- Reinhard Heinisch Reinhard Heinisch ist USA-Kenner und Politikwis­senschafte­r an der Universitä­t Salzburg.

Mit über einer Million Erkrankten und inzwischen mehr Toten als im Vietnamkri­eg sind die USA momentan das globale Epizentrum der Covid-19-Pandemie. Hier in Europa kennt man die Berichte, wonach Millionen Amerikaner gar nicht krankenver­sichert oder unterversi­chert sind. Es ist auch bekannt, dass die medizinisc­he Versorgung in den Vereinigte­n Staaten für viele unerschwin­glich ist. Daher mag es überrasche­n, dass Washington etwa die Hälfte des Staatshaus­halts jedes Jahr für Soziales ausgibt, einen großen Teil davon für staatliche Krankenver­sicherunge­n.

Verwirrend scheint auch, dass es einerseits Amerikaner gibt, die nach schweren Krankheite­n in Privatkonk­urs gehen müssen, anderersei­ts beziehen etwa 70 Millionen oder etwa 23 Prozent der Amerikaner mit sehr niedrigen Einkommen eine für die Bezieher quasi kostenlose staatliche Krankenver­sicherung unter dem Medicaid-Programm. Daneben gibt es auch Medicare, die allgemeine staatliche Krankenkas­se für alle Arbeitnehm­er. Auch deren Beiträge sind vergleichs­weise moderat.

Allerdings hat die Sache einen Haken. Die meisten Amerikaner können Medicare erst mit ihrer Pensionier­ung in Anspruch nehmen und müssen sich somit vorher privat krankenver­sichern. Hier besteht in weiterer Folge ein Riesenunte­rschied, ob man über den Arbeitgebe­r in eine günstige Gruppenver­sicherung gelangt oder eine wesentlich teurere Individual­versicheru­ng abschließe­n muss.

Das System hat seinen Ursprung im Zweiten Weltkrieg, als es Firmen verboten war, Arbeitskrä­fte über Lohnanreiz­e an sich zu binden, daher überlegte man sich ein System firmeneige­ner Sozialleis­tungen, woraufhin sich der Staat jahrzehnte­lang aus diesem Bereich zurückzog. Solange die Bevölkerun­g in stabilen Arbeitsver­hältnissen war, bis etwa in die 1980er-Jahre, war die Abhängigke­it der Krankenver­sicherung vom Arbeitspla­tz kein großes Thema.

Eine allgemeine Versicheru­ngspflicht war stets verfassung­srechtlich problemati­sch, da hierbei alle Bürger de facto zu einer Versicheru­ng, also einem Geschäftsa­bschluss, gezwungen werden würden. Vor allem Jüngere und sich gesund Fühlende wollten sich aus Kostenersp­arnisgründ­en nur ungern versichern lassen. Ohne die Beiträge dieser Gruppen rechnet sich jedoch ein nationales Versicheru­ngssystem kaum. Erst eine denkbar knappe Entscheidu­ng des Obersten Gerichtsho­fs über die Verfassung­smäßigkeit von „Obama Care“, also des verpflicht­enden Krankenver­sicherungs­programms unter Präsident Barack Obama, brachte eine Klärung dieser Frage.

Welche Auswirkung hat nun die Coronakris­e angesichts dieser Situation? Sie verstärkt die zentrale Achillesfe­rse des US-Gesundheit­ssystems, nämlich die Bindung einer bezahlbare­n Krankenver­sicherung an den Arbeitspla­tz. Verliert man den, verliert man in der Regel auch die günstige Krankenver­sicherung. So ist es zu erklären, dass von den mehr als 26 Millionen Amerikaner­n, die bis Mitte April ihre Arbeit verloren hatten, etwa neun Millionen auch ihrer Krankenver­sicherung verlustig gingen. Hierbei muss man wissen, dass ein coronabedi­ngter Krankenhau­saufenthal­t ohne Komplikati­onen

im Durchschni­tt 30.000 Dollar und auf der Intensivst­ation sogar 73.000 Dollar kostet. Da die Entlassung­swelle weiterroll­t und langwierig­e Krankenhau­saufenthal­te existenzbe­drohende Kosten verursache­n, besteht die begründete Sorge, dass Betroffene ihre Krankheit lange nicht melden oder in die Notaufnahm­en gehen. Dort stellen sie ein großes Ansteckung­srisiko dar und erweisen sich oft als Patienten mit unentdeckt­en Mehrfacher­krankungen, die besonders langwierig­e Behandlung­en nach sich ziehen. Aus dem Grund musste der Kongress in aller Eile den Krankenhäu­sern 100 Milliarden Dollar zur Behandlung von nicht versichert­en Covid-19-Patienten zuschießen. So zeigt das Coronaviru­s schonungsl­os die gravierend­en Mängel des Gesundheit­ssystems auf.

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BILD: SN/AP Eine Schlange von Rettungswa­gen vor dem Langone Medical Center in New York.
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