Der amerikanische Patient
Gemessen an seiner Wirtschaftsleistung gibt es kaum ein Land, das so viel Geld für medizinische Versorgung ausgibt wie die USA. Woran krankt es dann?
Mit über einer Million Erkrankten und inzwischen mehr Toten als im Vietnamkrieg sind die USA momentan das globale Epizentrum der Covid-19-Pandemie. Hier in Europa kennt man die Berichte, wonach Millionen Amerikaner gar nicht krankenversichert oder unterversichert sind. Es ist auch bekannt, dass die medizinische Versorgung in den Vereinigten Staaten für viele unerschwinglich ist. Daher mag es überraschen, dass Washington etwa die Hälfte des Staatshaushalts jedes Jahr für Soziales ausgibt, einen großen Teil davon für staatliche Krankenversicherungen.
Verwirrend scheint auch, dass es einerseits Amerikaner gibt, die nach schweren Krankheiten in Privatkonkurs gehen müssen, andererseits beziehen etwa 70 Millionen oder etwa 23 Prozent der Amerikaner mit sehr niedrigen Einkommen eine für die Bezieher quasi kostenlose staatliche Krankenversicherung unter dem Medicaid-Programm. Daneben gibt es auch Medicare, die allgemeine staatliche Krankenkasse für alle Arbeitnehmer. Auch deren Beiträge sind vergleichsweise moderat.
Allerdings hat die Sache einen Haken. Die meisten Amerikaner können Medicare erst mit ihrer Pensionierung in Anspruch nehmen und müssen sich somit vorher privat krankenversichern. Hier besteht in weiterer Folge ein Riesenunterschied, ob man über den Arbeitgeber in eine günstige Gruppenversicherung gelangt oder eine wesentlich teurere Individualversicherung abschließen muss.
Das System hat seinen Ursprung im Zweiten Weltkrieg, als es Firmen verboten war, Arbeitskräfte über Lohnanreize an sich zu binden, daher überlegte man sich ein System firmeneigener Sozialleistungen, woraufhin sich der Staat jahrzehntelang aus diesem Bereich zurückzog. Solange die Bevölkerung in stabilen Arbeitsverhältnissen war, bis etwa in die 1980er-Jahre, war die Abhängigkeit der Krankenversicherung vom Arbeitsplatz kein großes Thema.
Eine allgemeine Versicherungspflicht war stets verfassungsrechtlich problematisch, da hierbei alle Bürger de facto zu einer Versicherung, also einem Geschäftsabschluss, gezwungen werden würden. Vor allem Jüngere und sich gesund Fühlende wollten sich aus Kostenersparnisgründen nur ungern versichern lassen. Ohne die Beiträge dieser Gruppen rechnet sich jedoch ein nationales Versicherungssystem kaum. Erst eine denkbar knappe Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Verfassungsmäßigkeit von „Obama Care“, also des verpflichtenden Krankenversicherungsprogramms unter Präsident Barack Obama, brachte eine Klärung dieser Frage.
Welche Auswirkung hat nun die Coronakrise angesichts dieser Situation? Sie verstärkt die zentrale Achillesferse des US-Gesundheitssystems, nämlich die Bindung einer bezahlbaren Krankenversicherung an den Arbeitsplatz. Verliert man den, verliert man in der Regel auch die günstige Krankenversicherung. So ist es zu erklären, dass von den mehr als 26 Millionen Amerikanern, die bis Mitte April ihre Arbeit verloren hatten, etwa neun Millionen auch ihrer Krankenversicherung verlustig gingen. Hierbei muss man wissen, dass ein coronabedingter Krankenhausaufenthalt ohne Komplikationen
im Durchschnitt 30.000 Dollar und auf der Intensivstation sogar 73.000 Dollar kostet. Da die Entlassungswelle weiterrollt und langwierige Krankenhausaufenthalte existenzbedrohende Kosten verursachen, besteht die begründete Sorge, dass Betroffene ihre Krankheit lange nicht melden oder in die Notaufnahmen gehen. Dort stellen sie ein großes Ansteckungsrisiko dar und erweisen sich oft als Patienten mit unentdeckten Mehrfacherkrankungen, die besonders langwierige Behandlungen nach sich ziehen. Aus dem Grund musste der Kongress in aller Eile den Krankenhäusern 100 Milliarden Dollar zur Behandlung von nicht versicherten Covid-19-Patienten zuschießen. So zeigt das Coronavirus schonungslos die gravierenden Mängel des Gesundheitssystems auf.