Die Pandemie der Lüge
Der moderne Hexenwahn. Mit den Coronaviren breiten sich Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und Cyberkriminalität aus.
In der Coronakrise breiten sich auch weltweit vermehrt Falschmeldungen und Internetbetrügereien aus. Andre Wolf deckt sie bei der Initiative Mimikama auf.
SN: Winzige Chips, die per Handschlag auf andere Menschen übertragen werden, Schweine im Weltall und der Billa-Whatsapp-Kettenbrief: Sie decken täglich Fake News und Gefahren im Netz auf. Wie finden Sie diese?
Andre Wolf: Jeder kann uns Meldungen schicken, die ihm seltsam vorkommen. Wenn möglich und nachweisbar, gehen wir dem nach. Das reicht von Abo-Fallen und Spam-Mails bis zu schädlichen Links, bewusst gesteuerten Manipulationen und Hetzmeldungen. Üblicherweise schicken User verdächtig wirkende E-Mails, Artikel, Facebook-Posts. Wir sortieren, beantworten, untersuchen, recherchieren.
SN: Was hat sich durch das Coronavirus verändert?
Das Aufkommen an Anfragen. Am Anfang der Krise ist ein Vierfaches an Meldungen auf uns zugekommen. Üblicherweise werden zwischen 80 und 120 vermeintliche Falschmeldungen pro Tag gemeldet. An starken Tagen zum Beispiel rund um ein Attentat oder einen Anschlag konnten es 150 bis 200 sein. Während der Coronakrise kamen plötzlich 450 bis 500 Nachrichten herein.
SN: Auch weil die sozialen Medien in den vergangenen Wochen stärker genutzt wurden?
Ja, das ist ein Grund. Wir kompensieren fehlenden persönlichen Austausch über Social Media. Das verändert die Kommunikation. Es werden neue Wege und Ideen gefunden, aber auch Betrüger haben sich spezialisiert.
SN: Online gibt es viele Trittbrettfahrer, die versuchen, die Krise für die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu nutzen. Welche
Gefahren sind neu entstanden?
Fälscher nutzen die veränderten Bedürfnisse aus. Sie bauen einen Bezugspunkt in ihrer Kriminalität auf. Egal ob Phishing-Mails oder Fake-Gewinnspiele – alles hat jetzt Coronabezug. Da heißt es nun: In der Coronakrise verlosen wir zehn Campingwägen. Oder man klickt, um eine Coronakarte zu sehen, einen Link an, und hinter der Datei versteckt sich ein Trojaner. Zielgruppe der Cyberkriminalität, wo mit Corona auf illegale Art und Weise Profit gemacht wird, sind wir alle.
SN: Wovor haben Sie in den vergangenen
Wochen besonders häufig gewarnt?
In der Anfangsphase des Virus hatten Kettenbriefe mit Informationen vom Hörensagen Hochsaison. Es gab Verharmlosungen, Vorschläge zur Behandlung, Falschmeldungen über angeblich bevorstehende Verordnungen und
Einschränkungen für die Bevölkerung. Da konnte man klar ansetzen und aufklären. In Woche zwei folgten Videos, für die Menschen in Krankenhäuser gegangen sind, um zu behaupten, dass diese leer sind. Außerdem wurde spekuliert, was geschlossen wird und was nicht. Trollereien begleiten uns immer als Bestandteil der Internetpopkultur. Dann erreichten wir eine gefährliche Eskalationsstufe: die destabilisierenden Verschwörungstheorien.
SN: Was verstehen Sie darunter?
Absurde Verschwörungsmythen, die jede Evidenzgrundlage missen lassen. Zum Beispiel zum Thema 5G oder Geschichten darüber, dass Eliten Blut trinken und von eingesperrten Kindern Hormone abzapfen. In einem weit verbreiteten Video berichtet Xavier Naidoo von Kindern, die weltweit aus den Händen von Pädophilen befreit werden. Kryptisch nennt er das Stichwort Adrenochrom, das eine Verjüngungsdroge sein soll und in Form von satanischen Ritualen von kleinen Kindern gewonnen werde.
SN: Wie geht man mit so etwas um?
Da kann man keinen Faktencheck machen, nur erklären, wie Mythen funktionieren. Das war akut und massiv, hat aber nun stark abgenommen. Man kann nicht erklären, warum etwas abklingt. Eventuell hängt es mit dem sonnigen Wetter zusammen. Alles was heute gepostet wird, ist in drei, vier Tagen schon wieder out.
SN: Hat Corona schon ein bisschen Normalität erlangt? Wollen die Menschen langsam was anderes hören, sehen und lesen?
Man merkt bei vielen Menschen eine Coronamüdigkeit, was den Informationskonsum angeht. Das ist ein völlig normaler Ablauf. Den Effekt kennen wir von globalen Phänomenen: Es gibt einen Peak mit vielen Falschmeldungen. Auf Dauer ist man von diesen Nachrichten übersättigt. Innerhalb der Krise sehen wir Höhepunkte mit einzelnen Unterthemen.
SN: Mit der langen Beschäftigung ist das Wissen in der Bevölkerung enorm gewachsen, oder?
Ja, und das bewusste Streuen unterschiedlicher Meinungen per se ist nichts Neues. Zum wissenschaftlichen Diskurs gehören Unterschiede. Nur machen diese es für Außenstehende oft schwierig einzuordnen. Dann ist zu Unrecht von Lüge die Rede. Es kommt immer darauf an, wie die Person damit umgeht.
Gestehen sie Fehler selbst ein? Das ist ein gutes Zeichen. Der Wissenschafter Christian Drosten musste sich mehrfach am nächsten Tag ausbessern. Er kam oft zum Schluss, dass das, was er gestern gesagt hat, nach genauerer Betrachtung, heute nicht mehr gilt.
SN: Der Prozess, der immer wieder zu neuen Erkenntnissen führt, ist Teil des wissenschaftlichen Arbeitens.
Ganz genau. Eigentlich ist die selbstkritische Fehlerkultur der richtige Weg. Aber man muss es vermitteln können. Sonst sieht es so aus, als würde man sich ständig vertun. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die stur auf ihrem Standpunkt beharren. Sie kommen trotzdem an, weil sie einfach nur ihre Meinung durchziehen. Da gilt es genau hinzuschauen.
SN: Welche Lerneffekte brachte die Ausnahmesituation?
Eine komplett neue Begebenheit macht beeinflussbar. Falschmeldungen treten immer da auf, wo es Wissenslücken gibt. Sie spielen mit Ängsten und Unsicherheiten. Mittlerweile sind viele Fragen geklärt, Menschen kennen sich mit der Situation besser aus und können sie einschätzen. Je mehr diese Unsicherheiten mit zuverlässiger Information abgedeckt werden können, desto schwieriger haben es die Fake News.
SN: Sie sind beratend tätig für den Krisenstab, den die Regierung neu eingerichtet hat. Drängt sich da nicht der Orwell’sche Begriff des Wahrheitsministeriums auf?
In diese Richtung wurde es stark geframed. Ich weiß nicht, wie der Krisenstab mit den Informationen agiert. Unsere Rolle ist klar: Wir liefern fast täglich eine einschätzende Zusammenfassung und zeigen, wo die Schwerpunkte liegen und womit man in der Kommunikation rechnen muss.
SN: Bezahlt das Bundeskanzleramt Sie dafür?
Es gibt keine vertraglichen Verpflichtungen und keinerlei Zahlungen. Es ist eine Bitte, die wir als Mimikama politisch neutral wahrnehmen. Wir finanzieren uns neben den Werbeschaltungen auf der Website über Vorträge, Workshops zu den Themen Cybersecurity, Media Literacy und Digital Storytelling.
SN: Die aktuelle wirtschaftliche Situation lässt Journalisten weniger Zeit für Recherche. Medienforscher sehen eine Entwicklung hin zum Verlautbarungsjournalismus.
Ich halte sorgfältiges Vorgehen jetzt für besonders wichtig. In den letzten Tagen hat sich gezeigt, dass gerne vorschnell Postings von Nutzerinnen und Nutzern ohne Überprüfung publiziert wurden. Man muss, gerade jetzt, wenn man nicht raus und vor Ort nachfragen kann, sich die Zeit nehmen zu verifizieren, abwarten und Rücksprache halten mit der Person, die das geschrieben hat.