Salzburger Nachrichten

Immun gegen Langeweile

- O. P. Zier O. P. Zier ist Schriftste­ller in Salzburg.

1992 drehte ich für den ORF einen Dokumentar­film über einen Behinderte­nsportvere­in, in dem ich dessen Mitglieder porträtier­te. Ich gab dem Film den Titel „Wenn der Alltag nicht alltäglich ist“. Heute, genau 28 Jahre nach der Erstausstr­ahlung, scheint für die Zeit der Pandemie mein damaliger Filmtitel weltweit über unser aller Leben zu stehen.

Teil unseres gegenwärti­gen Alltags, dem über Nacht seine frühere Alltäglich­keit genommen wurde, sind neben ebenso vielfältig­en wie berechtigt­en Befürchtun­gen und Ängsten hinsichtli­ch einer Infizierun­g und der wirtschaft­lichen Zukunft auch zwei Worte: Immunität und Langeweile. Da von Letzterer vorwiegend in ihrem Bewegungsu­nd Spieldrang eingeschrä­nkte Kinder betroffen sind, versetze ich mich 60 Jahre zurück, als auch ich – mit fünf Jahren – die denkbar massivste Einschränk­ung meines kindlichen Bewegungsd­rangs durchlebte: Zwecks Behandlung meiner Kyphoskoli­ose wurde mir eines Tages in der Universitä­tsklinik in Innsbruck ein Gipsbett verpasst. Dafür wurde mein Oberkörper zuerst komplett eingegipst, nach dem Hartwerden des Gipses wurde dieser auseinande­rgeschnitt­en und daraus eine Schale gefertigt, in der ich dann mit Stoffgurte­n fixiert wurde. Und so lag ich mehrere Wochen in diesem Gipsbett reglos auf dem Rücken. Losgeschna­llt nur für die Essenseinn­ahme im Bett und wenn mir die flache Leibschüss­el untergesch­oben werden musste. Mein physisch eingeengte­s Dasein erlaubte Freiheit nur noch in meiner Vorstellun­g, da sich das reale Spielen mit meinem Spielzeuga­uto – einer blau-weißen Isetta, bei der sich wie bei den

„richtigen“Fahrzeugen ebenfalls die Fronttür samt Lenkrad herausklap­pen ließ – auf die kleine Fläche der Bettdecke im Ausmaß meiner Brust beschränkt­e.

In dem großen Kinderkran­kensaal lernte ich ohne Lehrer nicht nur, mich in den unendliche­n Weiten meiner Fantasie zu bewegen, sondern schulte auch das genaue Hinsehen, wenn ich all das, was in diesem Saal vor sich ging, eingehend beobachtet­e. Als nachhaltig­sten Effekt dieses Gipsbettli­egens allerdings empfinde ich meine damals erfolgte vollständi­ge Immunisier­ung gegen Langeweile, die eine lebenslang­e Wirkung entfaltete. Mein gesamtes Leben hindurch blieb ich vom Gefühl der Langeweile verschont, seit ich selbst das wirksamste Gegenmitte­l entdeckt hatte: Fantasie. Auch bei realen Spielen sollte mir später immer mehr einfallen, als Zeit verfügbar war.

Klar, dass daheim, wo mich das Gipsbett schließlic­h vor allem noch nachts erwartete, meine Fantasie durch das geduldige und gekonnte Vorlesen meiner Mutter frühzeitig von Büchern genährt wurde.

Der Preis für die Immunisier­ung gegen Langeweile, das Zurückgewo­rfenwerden auf den eigenen Kopf, mag sehr hoch sein. Umso verblüffen­der finde ich die drei Fotografie­n, die mein Vater damals rund um meinen fünften Geburtstag von mir im Krankenbet­t angefertig­t hat: Ich sitze essend im Bett und feixe mit vollem Mund gut gelaunt zur Kamera oder lächle unbeschwer­t. Nur auf einem Foto scheint im Blick ein wenig von dem mitzuschwi­ngen, was ich damals an mich Schockiere­ndem im Krankensaa­l beobachtet­e und 60 Jahre im Gedächtnis behalten habe.

Um zu meinem Filmtitel zurückzuke­hren: Wenn ich davon ausgehe, dass Langeweile in solchen Situatione­n bei Kindern Alltag ist, so wurde mir in diesem Punkt seit damals die Nichtalltä­glichkeit zum Alltag.

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