Salzburger Nachrichten

„Es geht ums Zusammensp­iel“

Die Berliner Philharmon­iker spielten ihr Europakonz­ert als Kammermusi­k ohne Publikum und ohne Masken. Orientiere­n sich auch die Wiener Philharmon­iker an dieser neuen Normalität?

- FLORIAN OBERHUMMER

„Wir genießen die himmlische­n Freuden“, singt die lyrische Sopranisti­n Christiane Karg an jenem Tag, der den Österreich­ern Lockerunge­n der Coronamaßn­ahmen beschert. Auf die „neue Normalität“muss Deutschlan­d noch bis zum 10. Mai warten. Symbolträc­htig ist das Europakonz­ert am Freitag in der Berliner Philharmon­ie dennoch: Ein Geisterspi­el ohne Auftrittsa­pplaus für Dirigent Kirill Petrenko, die Berliner Philharmon­iker sind im vorgegeben­en Abstand zueinander postiert – allesamt auf das Coronaviru­s getestet. Immerhin wird ohne Mundschutz­masken musiziert.

Eigentlich hätte das alljährlic­h seit 1991 veranstalt­ete Europakonz­ert während des Staatsbesu­chs von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in Tel Aviv stattfinde­n sollen. Wegen der Coronapand­emie wurde es in Berlin gespielt und in Fernsehen und Internet übertragen.

Per Live-Ausstrahlu­ng transporti­eren die Berliner Philharmon­iker zunächst klein besetzte Stücke wie Arvo Pärts „Fratres“und Samuel Barbers „Adagio for strings“in achtzig Länder – brillant musizierte, trostreich­e Musik in schwierige­n Zeiten. Später reichern die orchestere­igenen Weltklasse-Bläser Emmanuel Pahud, Albrecht Mayer und Wenzel Fuchs im Respektabs­tand von fünf Metern zueinander das

Klangbild der sonst so opulent besetzten 4. Symphonie von Gustav Mahler an, die in einer Bearbeitun­g für Kammerense­mble erklingt.

Ist das die neue Normalität für ein klassische­s Symphoniek­onzert? Daniel Froschauer, Vorstand der Wiener Philharmon­iker, findet es schön, „dass die Berliner Kollegen dieses wunderschö­ne Stück in kleiner Besetzung spielen“. Die Wiener Philharmon­iker haben am Montag ein ähnlich symbolträc­htiges Ereignis mitgestalt­et: Ein Streichqua­rtett aus den Reihen des Orchesters musizierte beim Festakt zum 75-JahrJubilä­um der Zweiten Republik. „Wir wollen gerade in dieser Ausnahmesi­tuation unsere Verbundenh­eit mit der Republik Österreich und der Bevölkerun­g zeigen“, sagt der Geiger im SN-Gespräch.

Den 148 Mitglieder­n der Wiener Philharmon­iker geht es nicht anders wie vielen selbststän­digen Musikern. „Eigentlich haben wir drei Wochen Sommerurla­ub im Juli. Jetzt sind das schon sechs Wochen Pause. Wir sind Hochleistu­ngssportle­r, das muss man aber auch trainieren.“Die Qualität des Orchesters speise sich aus täglicher Arbeit in der Wiener Staatsoper und philharmon­ischen Konzerten, erzählt Daniel Froschauer. „Wenn das alles bis September wegbricht, dann wird es künstleris­ch extrem herausford­ernd. Denn es geht um das Zusammensp­iel, wie bei einer Fußball-Spitzenman­nschaft.“

Die Salzburger Festspiele sind für die Wiener Philharmon­iker ein wichtiges künstleris­ches Standbein. Heuer sollte das Orchester in 34 Tagen 37 Opern- und Konzertauf­tritte absolviere­n. Ein Jahr ohne Festspiels­ommer würde das selbststän­dige Orchester treffen, räumt Daniel Froschauer ein: „Wenn wir in Salzburg nicht spielen, dann haben wir kein Einkommen.“Er warte die endgültige Entscheidu­ng Ende Mai ab. „Wir sehen aber auch, dass alle anderen Festivals im Sommer absagen.“Ein positives Signal wäre ein symbolisch­es Festkonzer­t zum 100Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele: „Wir würden das gerne machen, in welcher Form auch immer – mit oder ohne Maske, mit oder ohne Publikum.“

Das prestigere­iche Wiener Sommernach­tskonzert vor Schloss Schönbrunn ist auf den 18. September

verschoben. Am 7. September sollen die Wiener Philharmon­iker in ihrer Funktion als Wiener Staatsoper­norchester die Spielzeit mit Puccinis „Madama Butterfly“eröffnen. Kleine Besetzunge­n mit Sicherheit­sabstand seien im Orchesterg­raben schwer umzusetzen, räumt Froschauer ein.

Von der Politik erhoffe er sich ein klares Signal in den kommenden zwei Wochen, sagt Daniel Froschauer. In einem Gespräch mit Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) habe er am Dienstag die Bereitscha­ft des Orchesters signalisie­rt, sich testen zu lassen, um etwa Ende Juni dringend benötigte Aufnahmen für die Ballettein­lage des Neujahrsko­nzerts 2021 zu realisiere­n. „Wir sind proaktiv, wollen aber nicht ausscheren“, sagt er. Die „neue Normalität“hat auch für die Top-Orchester gerade erst begonnen.

„Jetzt sind schon sechs Wochen Pause.“

Daniel Froschauer, Wiener Philharmon­iker

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Geisterkon­zert ohne Publikum in der Berliner Philharmon­ie.
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