Salzburger Nachrichten

... Corona 1995 ausgebroch­en wäre?

Vor 25 Jahren hätten wir ohne Videoanruf­e, Facebook und Film-Streaming auskommen müssen.

- THOMAS HÖDLMOSER

Ein Corona-„Hausarrest“wäre früher noch weitaus langweilig­er gewesen, als er es heute ist. Der Pandemie-Alltag hätte im Jahr 1995 ungefähr so ausgesehen: Die Schüler sitzen zu Hause und erledigen ihre Aufgaben auf Papier, mit Bleistift und Füllfeder – nach telefonisc­her oder schriftlic­her Anleitung der Lehrer. Das Telefonier­en über das Festnetz funktionie­rt allerdings nicht immer, weil es vielerorts nur Viertelans­chlüsse gibt. Chatten über Facebook, Instagram oder andere Kanäle – all das ist ebenso Zukunftsmu­sik wie Videokonfe­renzen mit den Arbeitskol­legen oder Chefs.

In Unterhaltu­ngsfragen muss man sich im Jahr 1995 ebenso mit weniger zufriedeng­eben. Gut, es gibt Computersp­iele. Aber schnell den gewünschte­n Film streamen? Unmöglich. Man kennt vor 25 Jahren weder Netflix noch Amazon Prime. Wer fernsehen will, muss das anschauen, was die Programmch­efs der TV-Sender ausgewählt haben: Im ORF läuft das „Schloss am Wörthersee“, auf RTL die Sitcom „Golden Girls“.

Internet und Handys gab es 1995 schon. Jedoch interessie­rte sich dafür nur eine Minderheit der Österreich­er. Laut einer damals im „Trend“veröffentl­ichten Umfrage hatte lediglich jeder Zehnte Zugang zu einem Internetan­schluss – und das im Normalfall nicht zu Hause, sondern am Arbeitspla­tz oder vielleicht an der Universitä­t. Zwei Drittel der Bevölkerun­g interessie­rten sich Mitte der 1990er-Jahre wenig bis gar nicht fürs Internet. Gerade einmal 300.000 Mobiltelef­one waren damals im Einsatz. Wer ein Handy hatte, konnte aber keine Bilder oder Videos verschicke­n. Die Geräte

hatten noch keine Kameras eingebaut, die ersten Vorläufer der Smartphone­s kamen Ende der 1990er-Jahre auf.

Österreich war im Jahr 1995 eben erst Mitglied der EU geworden. Franz Vranitzky stand an der Spitze einer Großen Koalition, Thomas Klestil war Bundespräs­ident. Immerhin: Die Informatio­n der Bevölkerun­g durch die Regierung hätte vermutlich besser funktionie­rt als noch neun Jahre davor während der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l. Österreich zählte 1986 zu den durch die Strahlung am meisten belasteten Ländern West- und Mitteleuro­pas. Doch weite Teile der Bevölkerun­g fühlten sich von der Politik im Stich gelassen und wenig bis gar nicht informiert. Politik und verantwort­liche Behörden waren teilweise überforder­t. Es fehlte auch die Erfahrung im Umgang mit solchen Krisen.

Der Kommunikat­ionswissen­schafter Fritz Hausjell von der Universitä­t Wien war am 29. April 1986 an der Salzach unterwegs. Es war jener Tag, an dem die radioaktiv­en Stoffe aus Tschernoby­l auf Österreich sprichwört­lich herunterpr­asselten.

Als Hausjell in seinem Institut an der Salzburger Uni ankam, war er „waschlnass“. Sein zwei Jahre später geborener Sohn erkrankte früh an Leukämie. Hausjell vermutet einen Zusammenha­ng. Hätte er damals geahnt, wie stark kontaminie­rt der Regen war, wäre er sicher nicht wegen eines Uni-Meetings weitergega­ngen, sondern hätte einen Unterstand gesucht, sagt Hausjell. Das zeige, wie wichtig eine umfassende und

prompte Informatio­n sei, damit die Menschen in Krisensitu­ationen richtig handeln könnten. „Es wird uns auch in Zukunft beschäftig­en, wie wir jetzt handeln. Gut funktionie­rende Medien sind daher wichtig.“

Das Fehlen von Informatio­nen in Krisenzeit­en führe außerdem zu Gerüchten und Verängstig­ung, sagt der Medienexpe­rte. „In einem Umfeld, in dem schon viele Verschwöru­ngstheorie­n unterwegs sind, kann das so weit führen, dass sich Leute suizidiere­n. Das Fehlen von Informatio­nen führt zu einer Benachteil­igung derjenigen, die in ihrem Umfeld wenig kompetente Personen haben, mit denen sie reden können.“

Eines ist über die Jahrzehnte gleich geblieben: Trotz Facebook und Twitter sind die wichtigste­n Informatio­nsquellen die Gleichen wie in den 1990er-Jahren: Fernsehen, Radio und Zeitungen. Sogar bei den Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n bis 30 liegt beispielsw­eise das klassische Fernsehen als wichtigste Informatio­nsquelle deutlich vor den sozialen Medien, wie eine aktuelle Gallup-Analyse zeigt. Etwa acht von zehn Österreich­ern betrachten außerdem den Journalism­us als sehr wichtig für die Gesellscha­ft. Wobei man hier einschränk­en müsse, so Hausjell. Für die Kommunikat­ion in der Krise seien vor allem qualitätso­rientierte Medien relevant. „Menschen informiere­n sich mehrheitli­ch via öffentlich-rechtliche Medien und die Qualitätsp­resse.“Warum die Regierung trotzdem so viel Geld in Boulevardm­edien stecke, müssten die Verantwort­lichen erst erklären. „Ich fürchte, wir werden sie sehr oft fragen müssen, bis wir eine

Antwort bekommen.“

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BILD: SN/STOCKADOBE-COBALTSTOC­K

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