Salzburger Nachrichten

Ein Atheist über religiöse Rätsel

Die Säkularisi­erung schreitet voran. Aber die Religionen sind allgegenwä­rtig. Ein Atheist untersucht die Gründe, warum viele Menschen meinen, „dass das hier nicht alles gewesen sein kann“.

- JOSEF BRUCKMOSER

Eines stellt der britische Philosoph und Atheist Tim Crane von vornherein klar. Er will nicht zu den sogenannte­n neuen Atheisten gezählt werden, die in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n die Religionen, vor allem das Christentu­m, hart bekämpft haben. Buchtitel wie „Der Gotteswahn“von Richard Dawkins aus dem Jahr 2006 oder die Thesen eines Daniel C. Dennett, der Religion zu einem rein natürliche­n, wissenscha­ftlich erforschba­ren Phänomen erklärt hat, sind Tim Crane fremd. Er hat einen ganz anderen Zugang zum Phänomen Glauben. Er will als Atheist Religion verstehen und in gewissen Grenzen auch tolerieren, wobei Toleranz für ihn aber bedeutet, dass man das, was man toleriert, ganz klar ablehnt und nicht etwa bewundert.

Die Kernfrage des britischen Atheisten ist, warum so viele Menschen an ihren religiösen Überzeugun­gen festhalten, wo doch aus einer aufgeklärt­en wissenscha­ftlichen Sicht des 21. Jahrhunder­ts so viel dagegenspr­eche. Crane findet dafür zwei Gründe, einen systematis­chen und einen praktische­n. Den ersten nennt er den „religiösen Impuls“, einen Sinn für das Transzende­nte, der von der Überzeugun­g genährt werde, „dass das hier nicht alles sein kann“. Der zweite ist ein zwischenme­nschlicher, die „Identifika­tion“des Einzelnen mit einer großen historisch­en Tradition. Indem der religiöse Mensch Rituale, Gebräuche und moralische oder wohltätige Anforderun­gen erfülle, empfinde er sich hineingeno­mmen in eine große, bergende, die Jahrtausen­de überdauern­de Gemeinscha­ft.

Im Unterschie­d zu vielfältig­en Versuchen der Menschen, einen Sinn IM Leben zu finden, gehe es in der Religion gleichsam ums Ganze: den Sinn DES Lebens zu finden. Das stehe freilich im Widerspruc­h zu „einer der wirkmächti­gsten Ideen der Moderne“, dem Gefühl, dass die Welt und unser Dasein völlig bedeutungs­los seien. Crane zitiert dafür als Gewährsman­n Max Weber, der von der „Entzauberu­ng der Welt“gesprochen hat. Dieser entzaubert­e Blick auf die Welt kenne keine andere Ordnung außer den Naturgeset­zen. Darüber hinaus gebe es nichts, und eine „Wiederverz­auberung“der Welt sei nach der „kopernikan­ischen Wende“, nach der Evolutions­theorie von Charles Darwin und nach der Psychoanal­yse von Sigmund Freud nicht mehr möglich: Die Erde ist nicht der Mittelpunk­t der Welt, der Mensch ist wie alle Tiere nur Teil der Evolution, das Individuum hat nicht einmal seine Seele, sprich sich selbst, unter Kontrolle.

Dennoch hält Crane den Glauben an eine unsichtbar­e Ordnung nicht für „konfus“, sondern für „eine nachvollzi­ehbare menschlich­e Reaktion auf das Geheimnis der Welt und des Lebens, die in menschlich­en Gesellscha­ften über weite Strecken gang und gäbe war“. Er zitiert dazu den Gedanken des „religiösen Temperamen­ts“, den der US-Philosoph Thomas Nagel im Jahr 2013 dem Weltbild der Naturwisse­nschaften entgegenge­stellt hat. Demnach habe der Mensch die Sehnsucht, nicht nur das Leben einer Kreatur zu leben, sondern „auf irgendeine Weise am Leben des Universums als Ganzem teilzuhabe­n“.

Diese Sehnsucht wird jedoch nach Ansicht von Crane erheblich gestört durch das unerklärba­re Böse in der Welt, durch das unschuldig­e Leid so vieler Menschen.

Wie könne ein angeblich guter Gott das zulassen? Diese Frage der Theodizee sei für den Menschen extrem irritieren­d und erschütter­nd. Aus der Sicht des Atheisten komme das unschuldig­e Leiden so vieler „einer Widerlegun­g der Existenz Gottes schon recht nahe“. Allerdings könne man auch das Gegenargum­ent der Religionen nicht ohne Weiteres abtun: Dass Gottes Wege eben unergründl­ich seien. „Da ich selbst nicht gläubig bin, kann ich diese Denkweise nicht wirklich nachvollzi­ehen, in den Augen der Gläubigen ist da aber offensicht­lich etwas dran.“

Crane gibt dem scharfen Religionsk­ritiker Richard Dawkins insofern recht, als religiöse Behauptung­en

„keine sonderlich gute Figur machen, wenn man sie als wissenscha­ftliche Hypothesen versteht“. So habe z. B. Jesus das baldige Ende der Welt und die Ankunft des Reichs Gottes vorausgesa­gt – und sich faktisch geirrt. Das beunruhige gläubige Christen aber wenig, weil sie gar nicht davon ausgingen, dass Jesus eine wissenscha­ftliche Hypothese aufstellen wollte. „Vielmehr toleriert religiöser Glaube ein hohes Maß an Rätselhaft­igkeit und Nichtwisse­n.“

Das gelte selbst für die bereits angesproch­ene Theodizeef­rage. Die Religionen hätten auf das unschuldig­e Leid verschiede­nste komplexe Antworten gegeben, meint Crane. „Aber schlussend­lich läuft es darauf hinaus, dass es ein Mysterium ist, ein quälendes und verstörend­es Rätsel.“Das könne freilich nur jemand akzeptiere­n, der Wissenscha­ft und Religion als völlig unterschie­dliche Weisen, die Welt zu erklären, nebeneinan­derstehen lasse. Wer verstehen wolle, was religiöser Glaube sei, müsse diesen Unterschie­d anerkennen. Zwar habe auch die Wissenscha­ft ihre Mysterien, sie sei aber ständig bestrebt, die Zahl dieser Rätsel zu verringern. Die Religion dagegen akzeptiere unerklärba­re Geheimniss­e. „Glaube ist nicht Gewissheit, sondern gleicht eher einem unablässig­en Kampf um Verstehen in einer offensicht­lich mysteriöse­n Welt.“

Dass Gläubige diese Spannung akzeptiere­n, erklärt Crane unter anderem mit dem Benefit der Zugehörigk­eit, der Gemeinscha­ft, der Geborgenhe­it. Diese werde dadurch hergestell­t, dass sich Mitglieder von Religionsg­emeinschaf­ten auf denselben Katalog heiliger Dinge berufen und diese vollziehen. Jede externe Beurteilun­g von Religion muss daher nach Ansicht des britischen Atheisten berücksich­tigen, welch enorme Bereicheru­ng sie im Leben vieler Menschen darstelle. „Dabei denke ich nicht so sehr an den Trost, den falsche Glaubensüb­erzeugunge­n beispielsw­eise über ein Leben nach dem Tod spenden können. Ich denke vielmehr an das Gefühl, zu einer Kultur zu gehören und eine Geschichte zu haben; an das Gefühl, dass es Unbegreifl­iches in der

Welt gibt und Wertvolles jenseits der Befriedigu­ng momentaner

Wünsche.“

Unschuldig­es Leid widerlegt beinahe die Existenz Gottes.

Tim Crane

Atheist

 ??  ?? Tim Crane: „Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten“, 187 S., 22,70 Euro, Suhrkamp/Insel 2020.
Tim Crane: „Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten“, 187 S., 22,70 Euro, Suhrkamp/Insel 2020.

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