Ein Atheist über religiöse Rätsel
Die Säkularisierung schreitet voran. Aber die Religionen sind allgegenwärtig. Ein Atheist untersucht die Gründe, warum viele Menschen meinen, „dass das hier nicht alles gewesen sein kann“.
Eines stellt der britische Philosoph und Atheist Tim Crane von vornherein klar. Er will nicht zu den sogenannten neuen Atheisten gezählt werden, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Religionen, vor allem das Christentum, hart bekämpft haben. Buchtitel wie „Der Gotteswahn“von Richard Dawkins aus dem Jahr 2006 oder die Thesen eines Daniel C. Dennett, der Religion zu einem rein natürlichen, wissenschaftlich erforschbaren Phänomen erklärt hat, sind Tim Crane fremd. Er hat einen ganz anderen Zugang zum Phänomen Glauben. Er will als Atheist Religion verstehen und in gewissen Grenzen auch tolerieren, wobei Toleranz für ihn aber bedeutet, dass man das, was man toleriert, ganz klar ablehnt und nicht etwa bewundert.
Die Kernfrage des britischen Atheisten ist, warum so viele Menschen an ihren religiösen Überzeugungen festhalten, wo doch aus einer aufgeklärten wissenschaftlichen Sicht des 21. Jahrhunderts so viel dagegenspreche. Crane findet dafür zwei Gründe, einen systematischen und einen praktischen. Den ersten nennt er den „religiösen Impuls“, einen Sinn für das Transzendente, der von der Überzeugung genährt werde, „dass das hier nicht alles sein kann“. Der zweite ist ein zwischenmenschlicher, die „Identifikation“des Einzelnen mit einer großen historischen Tradition. Indem der religiöse Mensch Rituale, Gebräuche und moralische oder wohltätige Anforderungen erfülle, empfinde er sich hineingenommen in eine große, bergende, die Jahrtausende überdauernde Gemeinschaft.
Im Unterschied zu vielfältigen Versuchen der Menschen, einen Sinn IM Leben zu finden, gehe es in der Religion gleichsam ums Ganze: den Sinn DES Lebens zu finden. Das stehe freilich im Widerspruch zu „einer der wirkmächtigsten Ideen der Moderne“, dem Gefühl, dass die Welt und unser Dasein völlig bedeutungslos seien. Crane zitiert dafür als Gewährsmann Max Weber, der von der „Entzauberung der Welt“gesprochen hat. Dieser entzauberte Blick auf die Welt kenne keine andere Ordnung außer den Naturgesetzen. Darüber hinaus gebe es nichts, und eine „Wiederverzauberung“der Welt sei nach der „kopernikanischen Wende“, nach der Evolutionstheorie von Charles Darwin und nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud nicht mehr möglich: Die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt, der Mensch ist wie alle Tiere nur Teil der Evolution, das Individuum hat nicht einmal seine Seele, sprich sich selbst, unter Kontrolle.
Dennoch hält Crane den Glauben an eine unsichtbare Ordnung nicht für „konfus“, sondern für „eine nachvollziehbare menschliche Reaktion auf das Geheimnis der Welt und des Lebens, die in menschlichen Gesellschaften über weite Strecken gang und gäbe war“. Er zitiert dazu den Gedanken des „religiösen Temperaments“, den der US-Philosoph Thomas Nagel im Jahr 2013 dem Weltbild der Naturwissenschaften entgegengestellt hat. Demnach habe der Mensch die Sehnsucht, nicht nur das Leben einer Kreatur zu leben, sondern „auf irgendeine Weise am Leben des Universums als Ganzem teilzuhaben“.
Diese Sehnsucht wird jedoch nach Ansicht von Crane erheblich gestört durch das unerklärbare Böse in der Welt, durch das unschuldige Leid so vieler Menschen.
Wie könne ein angeblich guter Gott das zulassen? Diese Frage der Theodizee sei für den Menschen extrem irritierend und erschütternd. Aus der Sicht des Atheisten komme das unschuldige Leiden so vieler „einer Widerlegung der Existenz Gottes schon recht nahe“. Allerdings könne man auch das Gegenargument der Religionen nicht ohne Weiteres abtun: Dass Gottes Wege eben unergründlich seien. „Da ich selbst nicht gläubig bin, kann ich diese Denkweise nicht wirklich nachvollziehen, in den Augen der Gläubigen ist da aber offensichtlich etwas dran.“
Crane gibt dem scharfen Religionskritiker Richard Dawkins insofern recht, als religiöse Behauptungen
„keine sonderlich gute Figur machen, wenn man sie als wissenschaftliche Hypothesen versteht“. So habe z. B. Jesus das baldige Ende der Welt und die Ankunft des Reichs Gottes vorausgesagt – und sich faktisch geirrt. Das beunruhige gläubige Christen aber wenig, weil sie gar nicht davon ausgingen, dass Jesus eine wissenschaftliche Hypothese aufstellen wollte. „Vielmehr toleriert religiöser Glaube ein hohes Maß an Rätselhaftigkeit und Nichtwissen.“
Das gelte selbst für die bereits angesprochene Theodizeefrage. Die Religionen hätten auf das unschuldige Leid verschiedenste komplexe Antworten gegeben, meint Crane. „Aber schlussendlich läuft es darauf hinaus, dass es ein Mysterium ist, ein quälendes und verstörendes Rätsel.“Das könne freilich nur jemand akzeptieren, der Wissenschaft und Religion als völlig unterschiedliche Weisen, die Welt zu erklären, nebeneinanderstehen lasse. Wer verstehen wolle, was religiöser Glaube sei, müsse diesen Unterschied anerkennen. Zwar habe auch die Wissenschaft ihre Mysterien, sie sei aber ständig bestrebt, die Zahl dieser Rätsel zu verringern. Die Religion dagegen akzeptiere unerklärbare Geheimnisse. „Glaube ist nicht Gewissheit, sondern gleicht eher einem unablässigen Kampf um Verstehen in einer offensichtlich mysteriösen Welt.“
Dass Gläubige diese Spannung akzeptieren, erklärt Crane unter anderem mit dem Benefit der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft, der Geborgenheit. Diese werde dadurch hergestellt, dass sich Mitglieder von Religionsgemeinschaften auf denselben Katalog heiliger Dinge berufen und diese vollziehen. Jede externe Beurteilung von Religion muss daher nach Ansicht des britischen Atheisten berücksichtigen, welch enorme Bereicherung sie im Leben vieler Menschen darstelle. „Dabei denke ich nicht so sehr an den Trost, den falsche Glaubensüberzeugungen beispielsweise über ein Leben nach dem Tod spenden können. Ich denke vielmehr an das Gefühl, zu einer Kultur zu gehören und eine Geschichte zu haben; an das Gefühl, dass es Unbegreifliches in der
Welt gibt und Wertvolles jenseits der Befriedigung momentaner
Wünsche.“
Unschuldiges Leid widerlegt beinahe die Existenz Gottes.
Tim Crane
Atheist