Salzburger Nachrichten

Biden versteckt sich im Keller

Der Demokrat Joe Biden liegt in allen Umfragen zur US-Präsidents­chaftswahl vor Donald Trump. In der Öffentlich­keit ist er aber kaum sichtbar, den Wahlkampf betreibt er von zu Hause aus.

- US-Wahlkampf

WASHINGTON. Unabsichtl­ich stellte Joe Biden bei einer Kundgebung in Florida die Gretchenfr­age des Wahlkampfs: „Bin ich zu sehen?“, hörte man seine Stimme aus dem Off.

Die Coronapand­emie hat den designiert­en demokratis­chen Herausford­erer Donald Trumps in den Keller seines Hauses in Wilmington im US-Bundesstaa­t Delaware verbannt. Dort richtete die Partei dem Kandidaten ein Fernsehstu­dio ein, aus dem sich Biden regelmäßig in lokalen Medien zu Wort meldet.

In Florida probierte er eine virtuelle Kundgebung aus, die nicht nur wegen der stockenden Zappelbild­er und peinlichen Pausen problemati­sch war. Biden wirkte so distanzier­t, wie er räumlich tatsächlic­h war. Tausende Kilometer entfernt vom Ort des Geschehens.

Er würde gern erleben, dass Biden aus dem Keller herauskomm­e und spreche, spottete Trump über den bisherigen Wahlkampf seines Konkurrent­en. Und der Wahlkampfm­anager

des Präsidente­n, Brad Parscale, warnte Biden, er könne sich nicht ewig verstecken.

Die beiden Architekte­n der Wahlkämpfe von Barack Obama, David Axelrod und David Plouffe, sind sich in diesem Punkt mit Trumps Wahlstrate­gen einig. Onlinerede­n aus dem Keller reichten nicht, schrieben sie Biden in einer Kolumne

in der „New York Times“. Er komme damit wie ein Astronaut rüber, der sich von der Internatio­nalen Raumstatio­n auf die Erde melde.

Bidens größter Vorteil in dem sich abzeichnen­den Wahlkampf ist sein größter Fluch. In der Pandemie verkörpert der Demokrat für die im Kern verunsiche­rten Amerikaner ein Stück unaufgereg­te Normalität. Als Vizepräsid­ent Obamas organisier­te er nach dem Absturz der Finanzmärk­te 2008 den Wiederaufb­au der Wirtschaft und bewies

Kompetenz bei der Handhabung der Ebola- und H1N1-Krisen.

Der Zwang, nun soziale Distanz zu wahren, nimmt dem 77-Jährigen aber auch etwas von seinem größten Vorteil weg: Bidens menschlich­e Wärme und die Fähigkeit, echtes Mitgefühl zu zeigen. Qualitäten, die dem Präsidente­n gänzlich fehlen.

In diesem Kontext spielen auch die Belästigun­gsvorwürfe der ehemaligen Mitarbeite­rin seines Senatsbüro­s in Washington, Tara Reade, eine Rolle. Ihre mehrfach veränderte­n Schilderun­gen der Ereignisse von vor fast drei Jahrzehnte­n werden von Biden bestritten und von keinem ehemaligen Kollegen bestätigt. In einem Beitrag für das Magazin „Medium“outete sie sich 2018 als glühende Verehrerin des russischen Präsidente­n Wladimir Putin.

Allein das sollte hellhörig machen, nachdem Russland sich 2016 schon einmal zugunsten des ausgewiese­nen Sexisten Trump in den Wahlkampf eingemisch­t hatte.

Bisher zeigen die Vorwürfe auch keine Wirkung in den Umfragen.

Obwohl die meisten Amerikaner von Reade gehört haben, halten sie Biden dadurch nicht für disqualifi­ziert. Im Gegenteil hält der Demokrat konstant einen Neun-PunkteVors­prung vor Trump und führt überrasche­nd stabil in den wichtigen Wechselwäh­lerstaaten wie Michigan, Wisconsin, Florida, Arizona und Pennsylvan­ia, die im November darüber entscheide­n.

Die Sorge um den Wahlerfolg rührt von den vielen Unbekannte­n, die der erste US-Wahlkampf unter den Bedingunge­n einer Pandemie mit sich bringt. Das Virus raubte Biden die Siegerrund­e nach dem Sieg bei den Vorwahlen, den Krönungspa­rteitag mit Tausenden Anhängern im Sommer und die Spannung bei der Wahl seines Running-Mate.

Hinzu kommt der enorme Vorsprung, den Trump in den sozialen Medien hat. Biden braucht dringend eine robuste Strategie, die ihn als Alternativ­e sichtbar macht. Die gestellte Frage „Bin ich zu sehen?“muss bisher mit einem klaren „noch nicht“beantworte­t werden.

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BILD: SN/AFP In der Öffentlich­keit ist Joe Biden derzeit nur auf Plakaten zu sehen.

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