Putin ist leise geworden
Wladimir Putin war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Bis Corona kam. 20 Jahre nach seinem ersten Amtsantritt wirkt Russlands starker Mann schwach wie kaum zuvor.
Es gibt da diese Szene, aufgenommen in der Residenz des russischen Präsidenten am Rande Moskaus. Wladimir Putin sitzt breitbeinig vor dem Kamin, vor ihm auf dem Tischchen liegen Ostereier, steht ein Kulitsch, das russische Osterbrot, daneben ein Kännchen Tee. Das Osterfest ist der wichtigste Feiertag im russisch-orthodoxen Kirchenkalender und fand dieses
Jahr mehrheitlich digital statt. Putin also sagt: „Wsjo budet choroscho“, alles wird gut. Es ist ein sehr russischer Satz, eine Art Beschwörungsformel, ein Euphemismus für „Ich weiß nicht mehr weiter“.
Denn gut ist gerade wenig im Lande Putins. Corona hat das politische Jahr, wie der Kreml es geplant hatte, vollkommen durcheinandergewirbelt. Die Abstimmung zur Verfassungsänderung, mit der Putin sich die Chance geschaffen hatte, noch bis 2036 im Amt bleiben zu können, musste verschoben werden. Wie auch die große Militärparade am 9. Mai. Es war eine bittere Entscheidung in einem Land, für das die staatliche Inszenierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ein Stück Identität ist. Seit Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, gab er den Kümmerer. Er hatte stets zu vermitteln versucht, er lotse die Menschen durch alle Krisen hindurch.
In Zeiten von Corona gibt Putin allerdings eine schwache Figur ab. Er ist geradezu kleinlaut. Alte Tricks, wonach andere – innerhalb und außerhalb des Landes – schuld an Missständen in Russland seien, greifen nicht mehr. Das Virus lässt sich nicht wegreden. Die Infektionszahlen von mehr als 280.000 Fällen gehören mittlerweile zu den höchsten in Europa, die Todesfälle sind mit 2630 niedrig – und unglaubwürdig. Täglich gibt es etwa 10.000 neue Fälle, die Dunkelziffer liege um vieles höher, sagen selbst die Behörden. Und das obwohl die Menschen seit Ende März in der sogenannten „Selbstisolation für alle“sitzen, rausgehen ist nur unter strengen Auflagen möglich, Spaziergänge sind explizit verboten.
Die Strafen wegen Verstößen sind hoch. Vor allem in den Regionen steht es schlecht um die medizinische Versorgung. Ärzte legen ihre Arbeit nieder, weil nicht genug Schutzausrüstung vorhanden ist. Quer durchs Land stürzen Mediziner aus noch ungeklärten Gründen aus Klinikfenstern, sie hatten alle mit Coronapatienten zu tun. Wochenlang gab Putin den Gegner harter Maßnahmen. Russland hatte bereits im
Jänner die Grenze zu China dichtgemacht und ruhte sich zu sehr darauf aus, das Virus sei eine „Sache der anderen“. Dass die „Sache“da längst die „eigene“war, zeigen Statistiken, die bereits Anfang des Jahres viel höhere Zahlen an Lungenentzündungen im Vergleich zum vergangenen Jahr lieferten.
Die Führung wischte die Bedenken beiseite. Ministerpräsident Michail Mischustin sagte noch Mitte März, die Gefahr für Russland sei minimal. Am 30. April kam er wegen Covid-19 in die Klinik. Auch Putins einflussreicher Sprecher Dmitri Peskow ist positiv auf Covid-19 getestet worden und liegt derzeit mit beidseitiger Pneumonie im Krankenhaus. Auch weitere Minister haben sich angesteckt. Die Gefahr hat die Führung erreicht.
In langatmigen Videokonferenzen, die live im staatlichen Fernsehen übertragen werden, delegiert Putin Aufgaben an die Gouverneure. Die Regionalverantwortlichen, die es längst verlernt haben, etwas entscheiden zu müssen, weil der Kreml ihre Machtbefugnisse stetig beschränkte, sollen plötzlich Entscheidungen treffen. Manche übertreiben es mit der Entscheidungsfreude,
manche sind vollkommen überfordert. Beklagen sie sich über die Unterversorgung der medizinischen Ausrüstung oder wegen finanzieller Engpässe, schimpft Putin: „Dann ran an die Arbeit, meine Herren!“Als Putin just am Tag mit der höchsten Infektionszahl Maßnahmen zur Lockerung verkündete und gleichzeitig betonte, dass weiterhin die Regionen das Sagen haben, hat das zu Irritationen geführt. Zu sehr sind die Menschen auf die Worte ihres Präsidenten eingestellt.
Und was gelte jetzt: Putins Lockerungen oder die Verbote der Gouverneure? Die Verwirrung war perfekt.
Obwohl Russland zu den Ländern mit den größten Geld- und Goldreserven gehört, gibt es sehr dünne Krisenpakete, die der Staat zu schnüren bereit ist. Die Beliebtheitswerte des Präsidenten sind so niedrig wie noch nie. Putin selbst werde zum Feind seiner viel beschworenen Stabilität, schreibt der Politologe Andrej Perzew in seiner Analyse fürs Moskauer Carnegie-Zentrum. Analysten rechnen mit zehn Millionen Arbeitslosen, der Ölpreis-Crash verschärft die Krise. So mancher Gouverneur hat angefangen, Ferkel und Kartoffeln an Coronageschädigte zu verschenken. Das Virus hat längst das System Putin befallen.
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