Brasilien taumelt führungslos
20.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden und ein Präsident, der Schönheitssalons als „systemrelevant“bezeichnet.
BRASILIA. Zum ersten Mal hat Brasilien binnen 24 Stunden fast 20.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus registriert. Insgesamt sind mehr als 310.000 Menschen angesteckt. Damit rückt Brasilien weltweit nach den USA und Russland auf Rang drei. Mehr als 20.000 Menschen fielen dem Virus in dem südamerikanischen Land zum Opfer – laut offiziellen Zahlen.
Während Brasilien auf den Höhepunkt der Pandemie zutaumelt, wirkt die Führung um Staatschef Jair Bolsonaro überfordert und realitätsfern. Experten sprechen von einem „Blindflug“, denn noch immer testen die Mediziner so wenig, dass das wahre Ausmaß der Infektionen nicht zu ermessen ist. Es könnte 15 bis 20 Mal größer sein als registriert. „Getestet wird nur, wer im Spital landet“, kritisiert Domingo Alves von der Medizinischen Fakultät von São Paulo. In der Stadt mit ihren mehr als 12 Millionen Einwohnern sind bereits 90 Prozent der Intensivbetten in den öffentlichen Spitälern belegt.
Auch immer mehr Indigene erkranken. Wie die „Vereinigung der Ureinwohner“(APIB) meldet, sind bereits 38 Völker betroffen. Die Krankheit erreiche mit „beängstigender Geschwindigkeit“alle Gebiete der Ureinwohner. Sie gelten als besonders gefährdet. In der Amazonas-Metropole Manaus werden die Toten in frisch angelegten Massengräbern beerdigt. Die Särge werden übereinandergestapelt.
Derweil regiert der Präsident immer autoritärer. Der irrlichternde Staatschef hat zwei Gesundheitsminister innerhalb eines Monats verheizt, weil ihm die restriktiven Maßnahmen nicht passten. Vor einer Woche ging mit Nelson Teich der zweite Gesundheitsminister in kurzer Zeit, still und schwer frustriert, nachdem Bolsonaro verkündet hatte, Schönheitssalons, Friseure und Fitnessstudios seien „systemrelevant“, und die Wiedereröffnung per Dekret verfügte.
Der Onkologe Teich wurde Mitte April als Gesundheitsminister installiert, nachdem Bolsonaro dessen Vorgänger Luiz Henrique Mandetta entlassen hatte. Auch Mandetta hatte Differenzen mit Bolsonaro über Abstandsregeln, Ausgangssperren und die Anwendung von Chloroquin. In einem Interview mit der Tageszeitung „Folha de São Paulo“verglich Mandetta das Gesundheitsministerium mit einem
Schiff, das seinen Kurs verloren hat. Der Ex-Minister rechnet damit, dass sich die Lage erst im September wieder zu normalisieren beginnt.
Vorerst übernahm die Nummer zwei im Ministerium, General Eduardo Pazuello, die Leitung des Ressorts. Damit zeichnet sich ein Stück mehr Militarisierung der brasilianischen Regierung ab.
Zehn Generäle bekleiden in Bolsonaros Kabinett entscheidende Posten. Vizepräsident Hamilton Mourão, ein zum Politiker gewordener Ex-General, gilt als wichtiger Berater und bisweilen sogar als Korrektiv des unberechenbaren Präsidenten. Bolsonaro verherrlicht die Militärdiktatur im Land noch immer nostalgisch.
Auch die Nachbarländer Brasiliens besorgt der nachlässige Umgang mit der Coronapandemie zunehmend. Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez bezeichnete Brasilien in der vergangenen Woche als „eine große Bedrohung“für sein Land. Die beiden Staaten eint eine 7000 Kilometer lange Grenze, die seit Mitte März geschlossen ist. Und vorerst auch dicht bleibt. „So, wie Brasilien die Krise managt, komme ich nicht im Traum auf die Idee, die Grenze zu öffnen“, unterstrich Benítez.
Schwer betroffen ist inzwischen auch das Andenland Peru. Mehr als 104.020 Menschen haben sich bisher nachweislich infiziert, wie das Gesundheitsministerium mitteilte. Mindestens 3024 Patienten seien im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Um die Ausbreitung zu bremsen, hatte die Regierung in Lima zunächst recht strenge Ausgangsbeschränkungen verhängt. Allerdings hielten sich viele Peruaner offensichtlich nicht an die Regeln.
Getestet wird nur in Spitälern