„Leider wird die Zahl unserer Kunden steigen“
Für 500.000 Österreicher war schon bisher der Einkauf von Lebensmitteln ein Problem. Die Coronakrise könnte die Lage verschärfen.
WIEN. Die Wiener Tafel und die bundesweit 40 SOMA-Sozialmarkt-Filialen sind Gradmesser, wie es um jene Österreicher steht, denen das Geld zum Einkaufen von Lebensmitteln fehlt. Oder zumindest äußerst knapp geworden ist. Laut einer Untersuchung der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) waren im Vorjahr 483.000 Menschen hierzulande nicht in der Lage, regelmäßig „gesellschaftlich akzeptable Speisen auf den Tisch zu bringen“. Der Fachausdruck dafür heißt Nahrungsunsicherheit. Das bedeutet: Für fast eine halbe Million Österreicher kam es oft nicht infrage, etwa Fleisch oder Fisch zu kaufen. Diese Zahl wird nun durch den Coronabedingten Shutdown beträchtlich ansteigen. Darüber sind sich die Experten schon jetzt einig.
„Der Bedarf ist bereits deutlich größer. Wir bekommen immer öfter Anrufe von Privatpersonen, die wissen wollen, woher sie Lebensmittel bekommen können“, berichtet Alexandra Gruber, Geschäftsführerin der Wiener Tafel. Als „Brücke zwischen Überflussgesellschaft und Bedarfsgesellschaft“(Eigendefinition) rettet die Organisation pro Jahr 650 Tonnen Obst und Gemüse davor, entsorgt zu werden. Knapp 100 Sozialeinrichtungen im Großraum Wien werden beliefert, 20.000 armutsbetroffene Menschen profitieren davon.
„Ich rechne in den nächsten Monaten auf jeden Fall mit einer Verdopplung der Zahl an Menschen, die an Nahrungsunsicherheit leiden“, sagt Karl-Michael Brunner, Ernährungssoziologe an der WU Wien. „Viele sind arbeitslos geworden oder befinden sich in Kurzarbeit. Dabei muss man bedenken, dass eine große Gruppe gar nicht erfasst werden kann, weil sie sich schämt und deshalb kostenlose Essensausgaben nicht nutzt.“Brunner weist jedoch darauf hin, Nahrungsunsicherheit nicht mit Ernährungsarmut zu verwechseln. Bei Letztgenannter handle es sich bereits um einen „quantitativen Mangel“. „Da sind wir schon so weit, dass Familien eine Mahlzeit pro Tag ausfallen lassen müssen, weil das Geld nicht reicht.“Und auch das komme in reichen Gesellschaften „gar nicht so selten“vor.
Rund 100.000 Menschen kaufen pro Jahr in den 40 SOMA-Filialen ein. Berechtigt dazu sind jene, die weniger als 1260 Euro netto im Monat verdienen. „Als wir vor 20 Jahren angefangen haben, sagten wir:
Der schönste Tag wird sein, wenn man uns nicht mehr braucht“, erinnert sich SOMA-Präsident Gerhard Steiner. „Diesen Tag sehe ich in weiter Ferne. Die Zahl unserer Kunden wird leider steigen, davon bin ich überzeugt.“In allen Filialen sei ein Anstieg der Kauffrequenz um zehn Prozent festzustellen, sagt Steiner.
Das größte Problem aller gemeinnützigen Lebensmittelverteiler war (und ist), dass von den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern der Großteil der älteren Generation angehört. „Die meisten sind älter als 60 Jahre und zählen daher zur Risikogruppe“, erklärt Alexandra Gruber von der Wiener Tafel. „Wir müssen täglich neu planen, und das mit einem Bruchteil unserer Ressourcen. Das bringt einen an seine Grenzen.“
Nicht anders stellt sich die Situation bei SOMA dar. Dort arbeiten 500 Mitarbeiter ehrenamtlich, rund 200 in Teil- oder Vollzeit. „Personell unterstützt wurden wir nur in Linz. Ansonsten hat die Politik auf uns vergessen – nicht zum ersten Mal“, kritisiert Präsident Steiner.
Die Untersuchung der Wirtschaftsuniversität zur Nahrungsunsicherheit war übrigens die erste dieser Art in Österreich. Studien zu Ernährungsarmut gebe es überhaupt noch keine, sagt Soziologe Karl-Michael Brunner. „In Deutschland oder Großbritannien gibt es schon lang verlässliche Zahlen. Bei uns ist das noch ein blinder Fleck. Das Interesse ist kaum vorhanden.“