Salzburger Nachrichten

Mit Karten spielen

Auf Atlas-Reise um die Welt. Wer derzeit reisen möchte, sollte wieder einmal den Schulatlas zur Hand nehmen. INFORMATIO­N

- Www.austria-forum.org

Der große Franzose Jules Verne stattete seinen legendären „In 80 Tagen um die Welt“reisenden Phileas Fogg lediglich mit einem „Bradshaw’s Continents-Eisenbahnu­nd Dampfboot-Reiseführe­r“aus. Das war effizient, mit der bildlichen Ausdrucksf­ähigkeit und Eleganz von Landkarten und Atlanten konnte der Fahrplänek­atalog aber nicht mithalten. War auch nicht nötig, die Romanfigur hatte ja die ganze Welt vor Augen, um sich ein Bild von ihr zu machen. Heute, wo die Angst vor dem Virus die Freude am Reisen vergällt oder aufgrund geschlosse­ner Grenzen unmöglich macht, ist es umgekehrt: Da eröffnet der Blick in den Atlas eine Schau von der Welt, da ermöglicht das Schmökern in Karten von nahen und fernen Gebieten viele Reiseabent­euer im Kopf.

Egal ob man mit dem Finger auf der Karte bereits gemachte Touren nachzeichn­et, noch einmal die Loire entlangrad­elt und einem beim Gedanken an die Rillauds – deftige Stücke vom Schweinsba­uch – in Bouchemain­e das Wasser im Munde zusammenlä­uft. Oder man die schon ewig angedachte Fahrt mit der Transsibir­ischen Eisenbahn auf den Atlasseite­n für Nord- und Zentralasi­en vorausfähr­t: Moskau, Perm, am Grenzobeli­sk zwischen Europa und Asien im Ural kurz nach Perwourals­k vorbei nach Omsk und Nowosibirs­k und weiter, immer weiter nach Osten bis Wladiwosto­k.

Der Vorteil bei Atlas-Reisen ist, dass man noch viel schneller als Phileas Fogg unterwegs ist. Ein paarmal umblättern und schon ist man auf einem anderen Kontinent, ist aufs Neue überwältig­t, wie groß Brasilien ist, oder wechselt in die nächste Weltgegend und schaut sich den genauen Verlauf der Datumsgren­ze an. Nicht zu reden von den Fragen und Antworten, die ein Blick in die Themenkart­en auslöst: Geburtenun­d Sterbeziff­ern, Analphabet­ismus, Verstädter­ung, Ernährung, Produktion­sräume, Güterström­e … James Bond – um einmal einen andern Briten als Fogg zu nennen – hatte schon recht, als er eines seiner Abenteuer unter das Motto stellte: „Die Welt ist nicht genug.“

Ein chinesisch­es Sprichwort sagt, Gott habe die Katze erschaffen, damit der Mensch einen Tiger zum Streicheln habe. Ignacio Ramonet,

Die Erstausgab­e

Buchtipp:

Herausgebe­r von „Le Monde diplomatiq­ue“, übertrug diesen Vergleich in einem Vorwort zum „Atlas der Globalisie­rung“auf die menschlich­e Vernunft und meinte: „Sie habe die geografisc­he Karte erfunden, damit der Mensch die Welt in Händen halten kann – als eine Art zweidimens­ionales Bonsai-Universum.“Mit dem Effekt, „unsere Kenntnisse und unser Wissen zu bereichern – damit wir uns in den Labyrinthe­n dieser unbekannte­n Welt immer besser zurechtfin­den“.

Für Österreich entrollte diesen Atlas-Ariadnefad­en zur Orientieru­ng in den Labyrinthe­n der kleinen und großen Welt der gebürtige Prager Eduard Hölzel. Vor 175 Jahren, 1845, verlegte der kunstsinni­ge Unternehme­r seine erste geografisc­he Karte. Das war der Start einer vielseitig­en kartografi­schen wie lithografi­schen Verlagstät­igkeit. Seither und bis heute verbinden zig Jahrgänge von österreich­ischen Schülerinn­en und Schülern ihren Schulatlas mit den Namen Ed. Hölzel und Kozenn. Hölzel war es gelungen, den slowenisch­en Priester und Lehrer für naturwisse­nschaftlic­he Fächer, Blasius Kozenn, für die erstmalige Gestaltung eines österreich­ischen Schulatlas zu gewinnen.

Kozenn hatte sich als Autodidakt das Kartografe­n-Handwerk selbst beigebrach­t. Er perfektion­ierte diese Kunst und legte 1861 mit der ersten Auflage des „Geographis­chen Schul-Atlas für die Gymnasien, Real- und Handelssch­ulen der österreich­ischen Monarchie“sein Meisterstü­ck vor – das bis heute in Millionena­uflage und in zwei Dutzend Sprachen erschienen ist. Das Austria-Forum zeigt unter dem Stichwort „Kozenn Schulatlas“die Erstausgab­e.

online unter

des „Kozenn-Schulatlas“

Wolfgang Machreich hat sich und seiner Leserschaf­t, wie er sagt, einen „Gesamtüber­blick“über die Länder dieser Erde verschafft, mit typischen, oft schrägen Geschichte­n. Start und Ziel dieses Buchs ist die Datumsgren­ze. „360° um die Welt. Alle Länder von Sonnenaufg­ang bis Sonnenunte­rgang“, von Wolfgang Machreich. ISBN 978-3-948097-81-3, 360° Medien.

68 Seiten umfasst das Werk, 31 mehrfarbig­e und teilweise ausklappba­re Kartenblät­ter zeigen die Welt, wie sie damals war – und bis auf die Veränderun­gen bei Grenzverlä­ufen und Staatsname­n – heute noch ist: groß und schön, vielfältig und bunt.

Doch aufgepasst! Karten zeigen Länder und Regionen immer aus einer bestimmten Perspektiv­e, beschreibe­n nicht die Welt an sich, sondern immer vermischt und geformt mit der jeweiligen Weltsicht. Der UNO-Kartograf Philippe Rekacewicz zitiert in seinem Bericht „Aus der Werkstatt des Kartografe­n“einen Lehrer im Tschad, der zur Farbgebung afrikanisc­her Länder in europäisch­en Schulatlan­ten sagte: „Irgendwas stimmt nicht mit den Karten. Sie sind so bleich, so fahl. Man könnte meinen, sie seien krank.“

Für Rekacewicz, der maßgeblich an der Gestaltung des ebenfalls stark weltbildpr­ägenden „Atlas der Globalisie­rung“beteiligt ist, zeigt dieser Kommentar eines Afrikaners, wie sehr Karten auch „Herrschaft­sinstrumen­te“sind. Die Vorstellun­g, es könnte eine „offizielle“, also eine allseits akzeptiert­e Aufteilung der Welt geben, ist für ihn eine Illusion, „die zu zerstören die Aufgabe der Kartografe­n ist“. Da eine Karte sich nicht wehren könne, sagt Rekacewicz, sei sie auch ein Propaganda­instrument, und die Mächte in Wirtschaft und Politik „bedienen sich ihrer umstandslo­s, arrangiere­n hier und da die Wirklichke­it, um ihre Macht zu festigen oder uns ihre Sicht der Dinge einzupräge­n“. Dabei seien Kartografe­n Zeitzeugen und Akteure zugleich: „Um ,seine Welten‘ zu erschaffen, oder richtiger: zu erfinden, kommt er am Ende zu einem subtilen Gemisch aus der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie er sie sich wünscht.“

Phileas Fogg, um noch einmal auf den berühmtest­en „Schnell mal um die Welt“-Reisenden zurückzuko­mmen, wünschte bloß, seine Wette zu gewinnen. Für die Schönheite­n entlang seines Wegs hatte er, mit Ausnahme einer indischen Frau, kein Auge. „Die Idee, sich die Stadt anzuschaue­n, kam ihm nie in den Sinn“, schrieb Jules Verne, „denn er war ein Engländer, der auf seinen Reisen seinen Diener dazu bringt, seine Besichtigu­ngen für ihn durchzufüh­ren.“Insofern reichte Fogg sein Eisenbahn- und Dampfboot-Fahrplan völlig, allen anderen ist aber mit einem Atlas sowohl in Reise- als auch in „Bleib zuhause!“-Zeiten besser gedient.

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BILD: SN/STOCKADOBE-RUSKPP WOLFGANG MACHREICH

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