„Am Beginn einer heiklen Phase“
Rot-Kreuz-Krisenmanager Gerry Foitik über schwindende Solidarität in der Krise, Fehler der Politik und die Protokolle des Krisenstabes.
MARIAN SMETANA
WIEN.
Gerry Foitik hat als Bundesrettungskommandant des Roten Kreuzes schon viele Krisen erlebt. Die Coronapandemie fordert auch den 49-jährigen Rettungsprofi, der seit März die Regierung berät. In den SN zieht er über die vergangenen Wochen Bilanz und erklärt, worauf es in den nächsten Wochen im Kampf gegen das Virus ankommt.
SN:
Mehr als zwei Monate Ausnahmezustand. Welche Erkenntnis nehmen Sie als Rot-Kreuz-Krisenmanager mit?
Gerry Foitik:
Vor allem in der frühen Phase habe ich eine immense Solidarität in der Gesellschaft festgestellt. Die Menschen haben gemerkt: Das schafft man nur gemeinsam. Die Menschen haben im März ja von sich aus schon die sozialen Kontakte reduziert. Oder auf Nachbarschaftshilfe gesetzt und die Risikogruppe geschützt. Das ist alles passiert, bevor die Regierung Maßnahmen getroffen hat. Wir kennen diese starke Solidarität in der ersten Phase von anderen Katastrophen. Im Moment passiert so etwas wie eine Entsolidarisierung. Jetzt kommen viele, die sagen, dass die Lage im März gar nicht so schlimm war. Außerdem fühlen sich manche Gruppen zunehmend benachteiligt.
Da hat es die Politik offenbar nicht geschafft, allen gleich zu helfen.
SN:
Was hätte die Politik anders machen müssen?
Vielleicht hätte man besser eine generelle Lösung für die verschiedenen Berufsgruppen anbieten sollen. Nach dem Motto: So wird dir geholfen, egal ob du Gastronom, Steuerberater oder Künstler bist. Wir erleben jetzt, dass täglich einzelne Pakete präsentiert werden – das Gastropaket, das Sportpaket, das Kulturpaket. Wenn man es geschafft hätte, eine Generalformel zu finden, wie die Menschen nach den gleichen Kriterien unterstützt werden, dann ersparte man sich, dass unterschiedliche Gruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich bedient werden und der Neid wächst. Wir kennen das aus der internationalen Hilfe. Wenn Hilfsgüter verteilen werden, dann ist es wichtig, dass sie nach den gleichen Kriterien verteilt werden, sonst kann es zu Konflikten führen.
SN:
Sollte es zu einer zweiten Welle kommen, wird die Gesellschaft also nicht mehr die Solidarität aufbringen?
Das wird nicht mehr so einfach sein. Allerdings werden sich dann generell die Rahmenbedingungen geändert haben. Wir lernen jeden Tag mehr über das Virus und damit kann die Reaktion auf eine mögliche zweite Welle viel differenzierter ausfallen. Ein Shutdown wird wahrscheinlich nicht mehr notwendig sein. Man wird die Übertragungswege besser kennen, bessere Testmöglichkeiten und erste Medikamente haben, die den Krankheitsverlauf abmildern. Das alles könnte im Herbst zur Anwendung kommen
„Im Moment passiert so etwas wie eine Entsolidarisierung.“
Gerry Foitik, RK-Bundesrettungskommandant
und eine zweite Welle könnte anders abgeflacht werden.
SN:
Worauf wird es in den nächsten Wochen im Kampf gegen das Virus ankommen?
Die vier Grundregeln gelten noch immer: Abstand halten, um die Tröpfchenübertragung zu vermeiden. In Innenräumen, wo der Abstand nicht eingehalten werden kann, soll ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. Die Händehygiene einhalten. Und viertens sollte die Stopp-Corona-App benutzt werden, um eine Infektionskette schnell nachvollziehen zu können.
SN:
Wie kam es, dass die App so in Kritik geriet?
Im Krisenstab wurde im März klar, dass man die Infektionsketten wegen der Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht mehr verfolgen kann. Dann kam die Idee auf, eine App zu starten. Wir können als Rotes Kreuz zwar diese App nicht entwickeln, haben aber Gelder aufgestellt und jemanden gesucht, der das kann. Wir haben aber unterschätzt, welches Politikum das wird. Obwohl wir den Datenschutz eingerechnet haben, haben wir unterschätzt, wie viele Kritiker aufstehen. Die Debatte hat dem Ziel der App massiv geschadet. Ich habe auf Facebook, dem Datenkraken schlechthin, mit
Leuten über den Datenschutz der App diskutieren müssen. Absurd.
SN:
Wie können wir die Risikogruppen über die gesamte Dauer der Pandemie schützen?
Menschen mit schweren Vorerkrankungen und über 65 sollten sich überlegen, was ihnen wirklich wichtig ist. Dieses Bedürfnis sollte man befriedigen, sonst wird man unglücklich, und das hilft niemandem. Dafür sollte man in anderen Punkten Abstriche machen. Die Menschen können sich nicht die nächsten eineinhalb Jahre einsperren. Wenn es Ihnen wichtig ist, ein Mal in der Woche Karten zu spielen, dann sollten Sie das machen. Dafür geht vielleicht der Nachbar weiterhin für Sie einkaufen. Wenn Sie Ihre Enkel treffen wollen, dann treffen Sie sie. Nur eben besser im Freien. Und so weiter. Man kann das Risiko nicht auf null senken, aber man kann es minimieren.
SN:
In der Bevölkerung kommt der Alltag langsam zurück.
Wie hoch ist die Alarmstimmung noch im Krisenstab?
Uns allen ist bewusst, dass wir uns am Beginn einer heiklen Phase befinden. Von jedem Infizierten geht die Gefahr aus, dass es wieder zu einem exponentiellen Wachstum der Ansteckungen kommt. Wer das
Virus hat, trifft mit hoher Wahrscheinlichkeit jemanden und steckt ihn an. Diese Kette muss unterbrochen werden. Das ist das oberste Ziel. Um das zu verhindern, ist ein hoher Aufwand notwendig. Die Testung und die Nachverfolgung der Kontaktperson müssen so schnell wie möglich erfolgen. Wenn jemand den Notruf wählt und sagt, er habe einen Herzinfarkt, geht im Hintergrund eine gewaltige Maschinerie los. Ähnliches passiert jetzt, wenn jemand bei 1450 anruft und sagt, dass er Coronasymptome hat.
SN:
War Österreich für die erste Welle gut gerüstet?
Ich würde sagen: Ja. Die Zahlen geben uns recht. Österreich hat die richtige Strategie gewählt, nämlich leicht Erkrankte zu Hause zu behandeln. Somit blieben die Spitäler handlungsfähig. Das Problem, das hat man auch diesmal gesehen, ist meist die materielle Versorgung, diesmal mit Schutzausrüstung und medizinischem Gerät.
SN:
Die Opposition fordert, dass die Sitzungsprotokolle aus den Berater- und Krisenstäben veröffentlicht werden. Wie stehen Sie dazu?
Im medizinischen Beraterstab des Gesundheitsministeriums gibt es schon länger einen Konsens dafür.
Da mangelt es meiner Meinung nach nur noch an den Ressourcen, damit das schnell veröffentlicht wird. Eine Veröffentlichung der Krisenstab-Protokolle halte ich für problematisch. Es muss natürlich transparent sein, welche Entscheidungen getroffen werden. Aber in den Sitzungen des Krisenstabs werden auch Worst-Case-Szenarien durchgespielt und die sind durchaus düster. Die Veröffentlichung könnte verunsichern und Angst schüren. Solche Szenarien müssen von Profis richtig interpretiert werden. Wenn alles veröffentlicht wird, frage ich mich auch, ob im Stab weiterhin so offen gesprochen wird. Aber das ist notwendig, um alle Szenarien zu diskutieren.
SN:
Wieso braucht die Regierung die Hilfe des Roten Kreuzes?
Wir sind eine KrisenmanagementOrganisation. Wir haben Profis, die beschäftigen sich auch dann mit Krisen, wenn es keine Krise gibt. Sie können in Krisen denken. Und wir genießen hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Wir sind ja auch gesetzlich verpflichtet, Behörden in Krisenzeiten zu unterstützen, egal unter welcher Regierung. Wir machen aber weiterhin keine Politik, sondern sind eine Hilfsorganisation. Davon sind im Übrigen auch andere in den Krisenstäben.
SN:
Es gab Kritik, dass Sie sich für die Anti-Corona-Kampagne der Politik haben instrumentalisieren lassen.
Das war unsere Idee. Schon Anfang März war für uns klar, dass mit Pressekonferenzen die Bevölkerung nicht ausreichend informiert werden kann. Da haben wir bereits begonnen, die Kampagne auszuarbeiten, um die Leute zu informieren. Das Konzept haben wir der Regierung zur Verfügung gestellt.
SN:
Es steht der Vorwurf im Raum, dass die türkis-grüne Regierung nicht immer auf die Experten gehört habe, wenn es um die Coronamaßnahmen ging. Wurden Sie ausreichend gehört?
„Die Experten“gibt es gar nicht. Das ist eine inhomogene Gruppe, die unterschiedliche Meinungen hervorbringt. Die Experten haben im März mögliche Szenarien gezeichnet und die Politik hat nur diese Modelle als Entscheidungsgrundlage in dieser neuen Situation gehabt. Dass sich im Nachhinein manche Szenarien als falsch herausstellen, ist in der Wissenschaft nicht ungewöhnlich. Ich persönlich habe auch nicht an die pessimistischen Szenarien geglaubt, wonach es hunderttausend Tote geben könnte. Aber wissen konnte es niemand.