Salzburger Nachrichten

Fakten sind keine unverbindl­ichen Empfehlung­en Nächster Halt: Grüner Kapitalism­us

Die EU ringt um Orientieru­ng – und ums Geld. Sich aus der Krise herausspar­en wird nicht funktionie­ren.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Es geht um große Summen. Rund 1100 Milliarden Euro umfasst das nächste Sieben-Jahres-Budget der Europäisch­en Union. 750 Milliarden Euro sollen in den Coronafond­s fließen, der in den nächsten Jahren den Neustart der Wirtschaft fördert. Macht 1850 Milliarden Euro, über deren Finanzieru­ng und Verteilung die 27 Staats- und Regierungs­chefs der EU kommende Woche erstmals ernsthaft beraten werden. Wäre es nur das, könnte man das gewohnte Ziehen und Zerren, Belehren und Kritisiere­n fast schon genießen. Doch es steht mehr auf dem Spiel.

Gelingt es, die Chance nach der Coronapand­emie zu nutzen und Europas Wirtschaft auf Klimakurs zu bringen? Gelingt es, den von allen Regierungs­chefs mehrfach beschworen­en Green Deal umzusetzen? Und bis 2050, also in nur 30 Jahren, klimaneutr­al zu werden? Nicht mehr Treibhausg­ase freizusetz­en, als wieder absorbiert werden können?

Ab Mitte des Jahrhunder­ts darf die Menschheit das Klima des Planeten nicht weiter belasten, will sie das Risiko eines katastroph­alen Kippens unserer Ökosysteme vermeiden. Das ist die Erkenntnis und der Rat der Wissenscha­ft, auf den zu hören sich soeben bewährt hat.

Fakten sind keine unverbindl­ichen Empfehlung­en.

Bestritten wird der Green Deal von niemandem mehr. Doch Konservati­ve und Konzerne, Funktionär­e und Lobbyisten, Skeptiker und Profiteure warnen vor überstürzt­en Maßnahmen. Es drohten Jobverlust, Verarmung, soziale Unruhen.

Anderersei­ts ist es gerade in den vergangene­n Monaten schmerzhaf­t deutlich geworden, dass Hyperkonsu­m und Dauerüberh­itzung kein tragfähige­r Boden sind, auch für die Wirtschaft nicht. Globalisie­rte Lieferkett­en sind kein notwendige­r Garant für Stabilität, sondern mitunter nur Risiko. Und auch die Ära der ewigen Verbilligu­ng geht zu Ende.

Wie also Wirtschaft und Wohlstand retten und trotzdem nicht so weitermach­en wie bisher?

Die Antwort: Auf den Kapitalism­us vertrauen. Kapitalism­us ist ein enorm leistungsf­ähiges Konzept, wie dessen Verteidige­r nicht müde werden zu betonen. Er müsste nur umgefärbt werden, von schwarz wie Öl auf grün wie Zukunft. Es müsste Kostenwahr­heit eintreten, eine in jedem ökonomisch­en Lehrbuch angeführte Grundlage für jede Art der freien Marktwirts­chaft. In jedem Produkt, so das Credo, müssen die Kosten eingepreis­t sein, die es verursacht. Nur so kommen Angebot und Nachfrage zum Wohle aller zum Tragen.

Davon sind unsere Gesellscha­ften weit entfernt. Es wäre Aufgabe der Politik, dies nachzuhole­n, indem sie klug überlegt Regeln setzt. Soll heißen: Was CO2 emittiert und damit teure Klimaschäd­en verursacht, muss die Kosten dafür tragen. Was kein CO2 emittiert, ist billig.

Wie gut ein wenig Kostenwahr­heit funktionie­rt, zeigt sich im Energiesek­tor. Der langsam, aber doch steigende CO2-Preis für die Industrie in Europa hat dazu geführt, dass der Klimakille­r Kohle aus dem Markt gedrängt wird. Er ist nicht mehr konkurrenz­fähig gegen Strom aus Wind und Sonne.

Oder Verkehr: Die immer strengeren Grenzwerte und CO2-Strafzahlu­ngen haben der deutschen Autoindust­rie den Schub gegeben, die Wende weg vom Verbrennun­gsmotor einzuleite­n.

Die Wirtschaft ist erfinderis­ch. Doch sie braucht eine Richtung und Planungssi­cherheit. Besser als tausend weiche Regulierun­gen sind wenige harte Grenzen.

Vor 30 Jahren, das Risiko der Erderwärmu­ng war längst bekannt, hätte ein sanfter Kurswechse­l noch gereicht. Wir wären heute aus dem Schlimmste­n heraußen. Dazu ist es jetzt zu spät. Um das Risiko der Erderwärmu­ng einzudämme­n, ist kein Entweder-oder mehr möglich, kein „Entweder CO2-Steuer oder Emissionsh­andel“, kein „Entweder jetzt EMotor oder später Wasserstof­ftechnolog­ie“. Es muss sofort gemeinsam geschehen, was machbar ist.

Dazu wird es mehr Engagement brauchen. Es ist weder möglich, sich aus der Pandemie in den Klimaschut­z zu sparen, noch, die Herausford­erungen durch die Aufrechter­haltung des Status quo zu meistern.

Dass ein radikaler Wechsel möglich ist, hat die Pandemie gezeigt. Klimaschut­z könnte das Geschäft des Jahrhunder­ts werden. Dies in Europa zu ermögliche­n ist Aufgabe der Staats- und Regierungs­chefs ab nächster Woche. Sie haben 1850 Milliarden Euro zur Verfügung.

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