Fakten sind keine unverbindlichen Empfehlungen Nächster Halt: Grüner Kapitalismus
Die EU ringt um Orientierung – und ums Geld. Sich aus der Krise heraussparen wird nicht funktionieren.
Es geht um große Summen. Rund 1100 Milliarden Euro umfasst das nächste Sieben-Jahres-Budget der Europäischen Union. 750 Milliarden Euro sollen in den Coronafonds fließen, der in den nächsten Jahren den Neustart der Wirtschaft fördert. Macht 1850 Milliarden Euro, über deren Finanzierung und Verteilung die 27 Staats- und Regierungschefs der EU kommende Woche erstmals ernsthaft beraten werden. Wäre es nur das, könnte man das gewohnte Ziehen und Zerren, Belehren und Kritisieren fast schon genießen. Doch es steht mehr auf dem Spiel.
Gelingt es, die Chance nach der Coronapandemie zu nutzen und Europas Wirtschaft auf Klimakurs zu bringen? Gelingt es, den von allen Regierungschefs mehrfach beschworenen Green Deal umzusetzen? Und bis 2050, also in nur 30 Jahren, klimaneutral zu werden? Nicht mehr Treibhausgase freizusetzen, als wieder absorbiert werden können?
Ab Mitte des Jahrhunderts darf die Menschheit das Klima des Planeten nicht weiter belasten, will sie das Risiko eines katastrophalen Kippens unserer Ökosysteme vermeiden. Das ist die Erkenntnis und der Rat der Wissenschaft, auf den zu hören sich soeben bewährt hat.
Fakten sind keine unverbindlichen Empfehlungen.
Bestritten wird der Green Deal von niemandem mehr. Doch Konservative und Konzerne, Funktionäre und Lobbyisten, Skeptiker und Profiteure warnen vor überstürzten Maßnahmen. Es drohten Jobverlust, Verarmung, soziale Unruhen.
Andererseits ist es gerade in den vergangenen Monaten schmerzhaft deutlich geworden, dass Hyperkonsum und Dauerüberhitzung kein tragfähiger Boden sind, auch für die Wirtschaft nicht. Globalisierte Lieferketten sind kein notwendiger Garant für Stabilität, sondern mitunter nur Risiko. Und auch die Ära der ewigen Verbilligung geht zu Ende.
Wie also Wirtschaft und Wohlstand retten und trotzdem nicht so weitermachen wie bisher?
Die Antwort: Auf den Kapitalismus vertrauen. Kapitalismus ist ein enorm leistungsfähiges Konzept, wie dessen Verteidiger nicht müde werden zu betonen. Er müsste nur umgefärbt werden, von schwarz wie Öl auf grün wie Zukunft. Es müsste Kostenwahrheit eintreten, eine in jedem ökonomischen Lehrbuch angeführte Grundlage für jede Art der freien Marktwirtschaft. In jedem Produkt, so das Credo, müssen die Kosten eingepreist sein, die es verursacht. Nur so kommen Angebot und Nachfrage zum Wohle aller zum Tragen.
Davon sind unsere Gesellschaften weit entfernt. Es wäre Aufgabe der Politik, dies nachzuholen, indem sie klug überlegt Regeln setzt. Soll heißen: Was CO2 emittiert und damit teure Klimaschäden verursacht, muss die Kosten dafür tragen. Was kein CO2 emittiert, ist billig.
Wie gut ein wenig Kostenwahrheit funktioniert, zeigt sich im Energiesektor. Der langsam, aber doch steigende CO2-Preis für die Industrie in Europa hat dazu geführt, dass der Klimakiller Kohle aus dem Markt gedrängt wird. Er ist nicht mehr konkurrenzfähig gegen Strom aus Wind und Sonne.
Oder Verkehr: Die immer strengeren Grenzwerte und CO2-Strafzahlungen haben der deutschen Autoindustrie den Schub gegeben, die Wende weg vom Verbrennungsmotor einzuleiten.
Die Wirtschaft ist erfinderisch. Doch sie braucht eine Richtung und Planungssicherheit. Besser als tausend weiche Regulierungen sind wenige harte Grenzen.
Vor 30 Jahren, das Risiko der Erderwärmung war längst bekannt, hätte ein sanfter Kurswechsel noch gereicht. Wir wären heute aus dem Schlimmsten heraußen. Dazu ist es jetzt zu spät. Um das Risiko der Erderwärmung einzudämmen, ist kein Entweder-oder mehr möglich, kein „Entweder CO2-Steuer oder Emissionshandel“, kein „Entweder jetzt EMotor oder später Wasserstofftechnologie“. Es muss sofort gemeinsam geschehen, was machbar ist.
Dazu wird es mehr Engagement brauchen. Es ist weder möglich, sich aus der Pandemie in den Klimaschutz zu sparen, noch, die Herausforderungen durch die Aufrechterhaltung des Status quo zu meistern.
Dass ein radikaler Wechsel möglich ist, hat die Pandemie gezeigt. Klimaschutz könnte das Geschäft des Jahrhunderts werden. Dies in Europa zu ermöglichen ist Aufgabe der Staats- und Regierungschefs ab nächster Woche. Sie haben 1850 Milliarden Euro zur Verfügung.