Salzburger Nachrichten

Eine EU in der Krise zählt auf Merkel

Die Ratspräsid­entschaft kann eine historisch­e Abschiedsv­orstellung der Bundeskanz­lerin auf europäisch­er Bühne werden.

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Es ist noch gar nicht lang her, da drängten sich in Deutschlan­d die Kandidaten, die Angela Merkels Erbe antreten wollten. Doch die Coronapand­emie hat auch das geändert. Keine Rede ist derzeit davon, ob CDU-Größen wie Friedrich Merz oder Armin Laschet oder doch der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) im kommenden Jahr als Kanzlerkan­didaten für die Union ins Rennen gehen. Merkel hat ihre Partei in solch lichte Umfragehöh­en zurückgebr­acht, dass sich die Langzeitka­nzlerin wieder fragen lassen muss, ob sie nicht vielleicht doch ein fünftes Mal antritt. „Nein, wirklich nicht“, hat sie gerade erst wieder beteuert. Sie will im Amt bleiben bis zur Bundestags­wahl im Herbst 2021, dann soll Schluss sein mit Politik.

Aber zuerst soll sie noch die Europäisch­e Union retten. So jedenfalls ist die Erwartungs­haltung vieler, wenn Deutschlan­d am 1. Juli Kroatien ablöst und für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt – und einen schweren Rucksack ungelöster Probleme.

Das nächste Siebenjahr­esbudget der Union, der kreditfina­nzierte Wiederaufb­aufonds für die Wirtschaft, der Brexit oder besser gesagt: die stockenden Verhandlun­gen mit Großbritan­nien über die Zeit danach. Und dann sollte bis Jahresende endlich auch noch ein neues Migrations­paket geschnürt und der Kampf gegen die Erderwärmu­ng ernsthaft in Angriff genommen werden.

Ursprüngli­ch hätten der Green Deal und das Bemühen um ein neues Verhältnis der EU zu China die Agenda der Deutschen dominieren sollen. Für September war ein noch nie da gewesener EU-China-Gipfel in Leipzig geplant, an dem alle 27 Staats- und Regierungs­chefs und der chinesisch­e Staats- und Parteichef Xi Jinping teilnehmen sollten.

Das Treffen, das ein mächtiges Signal Richtung Washington und Moskau gewesen wäre, musste wegen der Pandemie auf unbestimmt­e Zeit verschoben werden. Statt Weltpoliti­kfähigkeit zu beweisen, kämpft die Europäisch­e Union gegen die gefährlich­e Uneinigkei­t in ihrem Inneren.

Die Coronakris­e habe „alles auf den Kopf gestellt“, sagte Angela Merkel unlängst. Und Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) erklärte: „Europa aus der Krise führen – diese Aufgabe wird unsere Ratspräsid­entschaft bestimmen.“Folgericht­ig lautet das Motto der deutschen Vorsitzfüh­rung „Europa wieder stark machen“. Gelingt das, könnte Merkel ihre lange politische Karriere mit einem Erfolg von historisch­er Bedeutung krönen. Die nächsten Monate werden für den Bestand und die Weiterentw­icklung der Europäisch­en Union von entscheide­nder Bedeutung sein.

Zunächst geht es um den Ausgleich zwischen Nord und Süd, reicheren und ärmeren Ländern und die dazu gehörenden Milliarden­hilfen. Sie sollen über gemeinsame

Kredite in einem Wiederaufb­aufonds gebündelt und je nach Betroffenh­eit an von der Pandemie heimgesuch­te Länder verteilt werden. Spanien und Italien liegen hier an der Spitze.

Merkel und Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron haben dafür 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlba­ren Zuschüssen vorgeschla­gen. EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen will zusätzlich noch 250 Milliarden

Euro an Krediten vergeben. Macht zusammen 750 Milliarden Euro. Der Fonds soll gemeinsam mit dem nächsten Mehrjahres­budget von 2021 bis 2027 in Höhe von rund einer Billion Euro ausgehande­lt werden. Strittig ist so gut wie alles: die Höhe von Budget und Wiederaufb­aufonds ebenso wie die Gewichtung von Zuschüssen und Krediten. Die „sparsamen Vier“, bestehend aus Österreich, den Niederland­en, Schweden und Dänemark, legen sich quer, Osteuropäe­r fürchten um ihre Förderunge­n.

Kommende Woche machen die 27 Staatsspit­zen einen ersten Versuch der Annäherung per Videoschal­tung. Die Entscheidu­ng dürfte frühestens Anfang Juli bei einem Gipfel fallen, zu dem – so ist der Plan – wieder alle persönlich nach Brüssel reisen. Das gäbe Merkel die Möglichkei­t, „rund um den Tisch zu laufen und mit jemandem zu sprechen, persönlich nach einem Kompromiss zu suchen“.

Das, so hat sie einmal gesagt, hatte sie bei den Videokonfe­renzen vermisst. Genau darin aber liegt eine ihrer großen Stärken. Und das ist genau das, was die verunsiche­rte und gespaltene EU in den nächsten Monaten brauchen kann.

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Sylvia Wörgetter berichtet für die SN aus Brüssel

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