Schutzbedürftig? Selbstbestimmt?
Die Covid-19-Pandemie ist auch eine soziale Herausforderung, weil sie bewährte Hilfen erschwert und nach neuen Formen der Unterstützung verlangt.
Mit dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen hat sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit einerseits für Instrumente des Zusammenhalts sensibilisiert, die ihre Wirkung auch über die Ferne entfalten: den Social-Media-Chat, den Telefonanruf, den Brief.
Andererseits machte die ungewohnte Häuslichkeit in neuer Dimension für die Potenziale des direkten Umfelds empfänglich. War es der Zettel im Hausflur, auf dem Hilfe beim Einkaufen angeboten wurde, oder das aufmunternde Türzu-Tür-Gespräch mit der Nachbarin: die vielfältigen Ressourcen des sozialen
Nahraums wurden besonders dringend gebraucht – und flächendeckend sichtbar. Darin zeigt sich nicht zuletzt auch, dass menschliches Wohlergehen grundlegend auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. Das gilt für gewisse Lebensphasen in besonderer Weise – zum Beispiel für den Anfang des Lebens, bei Krankheit oder im Alter.
Vorsicht ist aus ethischer Perspektive aber geboten, wenn Fürsorgeabsichten in entmündigendes Verhalten umschlagen. Ein aktuelles Beispiel dafür betrifft die über 65-Jährigen. Sie stellen eine hochvulnerable Gruppe dar und unterliegen damit besonderer Schutz- und Unterstützungsbedürftigkeit. Die Rede davon, dass „wir unsere Alten beschützen und isolieren müssen“, ist dennoch unangebracht.
Warum? Wir, das bedeutet hier die jungen und aktiven Mitglieder der Gesellschaft, die sich den älteren und passiven zur Hilfe berufen sehen. Doch diese vereinfachende Gegenüberstellung wird der Realität nicht gerecht. Es stimmt: Manche Seniorinnen und Senioren
sind körperlich eingeschränkt, manche leiden unter ernsten Erkrankungen, manche sind nur schwer ansprechbar. Es stimmt aber ebenso: Die allermeisten sind trotz ihres höheren Alters sowie der einen oder anderen schmerzhaften Unannehmlichkeit, die damit einhergehen kann, voll entscheidungs- und handlungsfähig.
Der nun kursierende (und mancherorts bereits verwirklichte) Gedanke, die Handlungsmöglichkeiten im sozialen Nahraum für eine bestimmte Altersgruppe als solche zu beschränken, ist vor diesem Hintergrund äußerst fragwürdig. Besonders problematisch erscheint diese Form der Altersdiskriminierung, wenn sie mit der Annahme einhergeht, dass das Interesse älterer Menschen an gesellschaftlicher Teilhabe ohnehin nur begrenzt sei. Wissenschaftliche Studien belegen das Gegenteil: Aktiv in den sozialen Nahraum eingebunden zu sein ist gerade für das Wohlbefinden älterer Menschen von großer Bedeutung. Wie aber lässt sich aktives Altern – über die Ausnahmesituation hinaus – tiefer in der Gesellschaft verankern? Indem es wie eingangs beschrieben auch und gerade älteren Menschen ermöglicht wird, weitestgehend selbstbestimmt und kooperativ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zurechtzukommen.
Zukunftsweisende Ansätze zum Ausbau derartiger Strukturen gibt es bereits. Neue gemeinschaftliche Wohnformen etwa, die auf dem Prinzip gegenseitiger Unterstützung im Alltag basieren und den Erhalt sozialer Kontakte im häuslichen Umfeld vereinfachen: die Senioren-WG, Quartierswohnen oder das Mehrgenerationenhaus.
In dieser (Neu-)Entdeckung des sozialen Nahraums liegt schließlich auch eine Antwort auf die Prozesse des demografischen Wandels, die gegenwärtig zwar aus der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt sind, aber weiterhin fortschreiten.