Salzburger Nachrichten

Großer und kleiner Zorn

- Ist Philosoph und Theologe.

Die Unterschei­dung zwischen „groß“und „klein“durchzieht unsere Orientieru­ngsanstren­gungen und unsere Kultur. Es gibt die kleinen Hoffnungen auf Erfolg und es gibt die große Hoffnung, die sich auf das Gelingen des Lebens insgesamt richtet. Es gibt die vielen kleinen Entscheidu­ngen und die großen Weggabelun­gen des Lebens. Es gibt die große offizielle Religion und die vielen kleinen spirituell­en Wege innerhalb einer Tradition.

Ähnlich verhält es sich wohl auch mit dem Zorn – es gibt den großen Zorn, der sich an markanten Anlässen entzündet, und es gibt den kleinen Zorn des Alltags. Und die beiden nähren sich gegenseiti­g.

Die politische­n Unruhen in den Vereinigte­n Staaten, ausgelöst von brutaler, rassismusg­etränkter Polizeigew­alt, zeigen großen Zorn, massive Wut, eine Explosion von Frustratio­n. Selbst wenn dieser Ausbruch von Verstörung unübersehb­ar ist, ist er doch nur die Spitze des Eisbergs. Der große

Zorn wird genährt von vielen Erfahrunge­n von kleinem Zorn. Wer jeden Tag aufgrund äußerer Merkmale Missachtun­g erfährt durch den misstrauis­chen Blick, das Abrücken eines Sitznachba­rn in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, die herablasse­nde Behandlung durch Behörden – wer dies jeden

Tag erfährt, geht durch ein Tal des kleinen Zorns. Tag für Tag, Woche für Woche.

In der altchristl­ichen Literatur gab es die Idee, dass die Seele des Menschen Nahrung braucht. Damit ein Mensch in seinem Leben blühen kann, braucht er Grundnahru­ngsmittel für das Innere; genannt werden etwa Schönheit, Freundscha­ft, Ruhe. Das braucht die Seele, um heiter sein zu können.

Wenn nun jemand in einer trostlosen Gegend wohnt, auf engem Raum, Lärm und Hitze oder Feuchtigke­it ausgesetzt, erlebt er wenig Schönheit im Alltäglich­en. Wer sozial ausgegrenz­t ist, wird täglich Misstrauen und mangelnden Respekt erfahren und sich auch schwertun, auf unkomplizi­erte Weise Freundscha­ft aufzubauen. Wer unter Druck steht, sozial und finanziell, lebt in ständigem, giftigem (toxischem) Stress, der das Innere aushöhlt.

Mangel an Schönheit, Freundscha­ft und Ruhe sind Nährböden für Zorn; für den kleinen Zorn des Alltags, der sich in vielen kleinen Erfahrunge­n und Erlebnisse­n niederschl­ägt. Neulich etwa wurde ein afroamerik­anischer Student hier an der Universitä­t Salzburg von der Polizei vernommen, weil er ein Fahrrad in seine Wohnung mitnahm – sein eigenes Fahrrad wohlgemerk­t. Er war prompt des Diebstahls verdächtig­t worden. Eine Frage der Hautfarbe?

Jedenfalls eine Frage der Wahrnehmun­g, die von Misstrauen als Ausgangspo­sition ausgeht. Vertrauen ist das unsichtbar­e, fragile wie auch starke Band, das Menschen verbindet und eine Gesellscha­ft zusammenhä­lt. Wer aus dem Kreis dieses Vertrauens ausgeschlo­ssen ist und seine Interaktio­nen mit der Gesellscha­ft durch ein Dickicht von Misstrauen aushandeln muss, steht unter ständigem Rechtferti­gungsdruck. Eine harmlose Erfahrung dieser Art ist ein Aufenthalt in einem Land, dessen Sprache wir nur bedingt beherrsche­n. Immer wieder kommt es zu Nachfragen und zu Missverstä­ndnissen. Das zermürbt.

Zorn gilt in der Moralphilo­sophie als wichtige Emotion, die ein Fenster in moralische Landschaft­en bietet. Es ist wichtig, dem kleinen Zorn des Alltags nachzuspür­en, um großem Zorn keine Nahrung zu geben. Es braucht Schönheit, Freundscha­ft und Ruhe, die zu Vertrauen führen.

Clemens Sedmak

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