Putin versucht die Machtdemonstration
Der Präsident ließ das Militär groß aufmarschieren, aber viele Russen sind seine Auftritte leid.
Die Paradetruppen drängen sich in Reih und Glied, noch ein Tusch wird gespielt, dann gratuliert Wladimir Putin Russland, der Armee und dem Ausland: „Unmöglich, sich vorzustellen, was aus der Welt geworden wäre, hätte sich die Rote Armee nicht zu ihrer Verteidigung erhoben.“
Der russische Staatschef hatte die Parade zum Sieg über HitlerDeutschland vom 9. Mai auf den 24. Juni verlegt – wegen der Coronapandemie. Die ist zwar in Russland noch immer nicht ausgestanden, aber Russlands Elitetruppen marschieren ohne Masken oder Sicherheitsabstand an der Tribüne vorbei. Dort stehen nur sieben GUS-Staatschefs sowie der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Westliche Spitzenpolitiker
fehlen. Putin selbst war schon am Vorabend der Parade im Fernsehen aufgetreten, 51 Minuten lang redete er über das Coronavirus. Die Epidemie sei noch nicht völlig ausgemerzt, aber das Leben nehme wieder seinen normalen Lauf. Der Präsident versprach den russischen Familien noch einmal eine Soforthilfe von 130 Euro für jedes Kind unter 16 Jahren. Und ab 2021 eine Aufstockung der Einkommenssteuer von 13 auf 15 Prozent für reiche Russen, die umgerechnet mehr als 65.000 Euro im Jahr verdienen. Die 770 Millionen Euro, die dadurch zusätzlich in den Haushalt kommen würden, werde man für die Heilung von Kindern mit schweren und seltenen Krankheiten reservieren.
„Pseudosoziale Gerechtigkeit“, kommentierte die Wirtschaftsexpertin Alexandra Suslina in der Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“. Auch andere Liberale unterstellen
Putin Populismus vor seiner Verfassungsabstimmung, die am 1. Juli stattfindet und ihm die Macht sichern soll. Selbst der moskautreue Blogger Alexander Gorny jammert, er habe sich Putins Auftritt nicht länger als 25 Minuten ansehen können. „Er sagt viele ehrliche und richtige Sachen, aber seinen Worten fehlt die Energie.“Geblieben seien nur Müdigkeit, Gewohnheit und Ritual.
Putin ist jetzt 67 Jahre alt. Missgünstige unken, die Haut seiner Hände sei inzwischen faltiger als sein geglättetes Gesicht. Und der
Politologe Juri Korgonjuk vermutet, viele Russen betrachteten Putin und seinem Regiment inzwischen mit ähnlich ausgeprägter, aber passiver Abneigung wie die Sowjetbürger das damalige System. „Angesichts der Pandemie hat Putin sich geweigert, Verantwortung zu übernehmen, drückte sich vor Entscheidungen. Und jetzt fängt er auch noch an, wissenschaftliche Abhandlungen zu schreiben, die niemand liest.“Putins Reden werden länger und langatmiger. Und offenbar fehlen in seinem Team Mitarbeiter, die ihn darauf aufmerksam machen. Die Parade auf dem Roten Platz endet. Als das Dröhnen der letzten Su-25-Jagdbomber verstummt und ein Militärorchester „Tag des Sieges“anstimmt, erheben sich die Veteranen. Der Staatschef steht dazwischen, sichtlich zufrieden. Militärparaden gehören zu jenen Ereignissen, die Putin liebt.