Schulen zwischen Schluss und Schließung
Wenn man Schulen und Unis endlich als systemrelevant betrachtet, wird man sich für den Herbst im Coronajahr mehr überlegen müssen.
Deutlicher als je in der Geschichte steht die Menschheit an einem Kreuzweg. Der eine Weg führt in Verzweiflung und äußerste Hoffnungslosigkeit, der andere in die totale Vernichtung. Beten wir um die Weisheit, die richtige Wahl zu treffen.
So beginnt kein Samstagsleitartikel in den SN – nicht einmal in Coronazeiten. Nein, so beginnt eine 1975 veröffentlichte Kurzgeschichte von Woody Allen, die passenderweise den Titel „Meine Ansprache an die Schulabgänger“trägt.
Für Schulabgänger gibt es heuer ohnedies keine großen Ansprachen. Und der coronabedingte Schulschluss in fünf Bezirken Oberösterreichs machte auch dem Bildungsminister, der per „ZiB“-Ansprache zum Schulschluss den Normalbetrieb für den Herbst groß propagieren wollte, irgendwie einen Strich durch die Schulschlussrechnung. Der Minister wollte vorrechnen, dass seit der Öffnung am 18. Mai lediglich vier Schulen kurzfristig geschlossen wurden. Nun scheint wieder einmal alles anders: 85.000 Schüler im oberösterreichischen Coronacluster gehen in vorzeitige Shutdown-Ferien. Frei nach dem Ersatzbildungsmotto: Clusterbildung ist auch eine Bildung.
Die Entscheidungen, die vielleicht bald wieder zu treffen sein werden, brächten für die Verantwortlichen dann fast so dramatische Alternativen wie oben im Einleitungszitat. Denn erneute VollShutdowns im Herbst können sich weder die Wirtschaft noch das Bildungssystem leisten – eine sprunghafte Massenausbreitung der Erkrankung freilich auch nicht. Aber wir haben offensichtlich dazugelernt. Im Fall von Infektionen wird ab Herbst an den Schulen mit konzentrischen Maßnahmen vorgegangen: Maske, Schichtbetrieb oder Homeschooling für einzelne Klassen bzw. den betroffenen Standort oder für mehrere Schulen im Bezirk.
Viele der bei uns an den Schulen gesetzten Maßnahmen waren schon zuvor richtig und manche Fehler, die in anderen Ländern passierten, wurden bei uns nicht gemacht. Im traumatisierten Italien bleiben die Schulen auch in absolut nicht betroffenen Regionen vom 13. März bis in den Herbst zu. In Spanien haben die Kinder, die nicht einmal auf den Spielplatz durften, laut Studien im Schnitt fünf Kilo zugenommen. Die Moral unserer Lehrer ist weiterhin sehr hoch. Deutsche Kultusminister berichten dagegen von immer mehr Lehrern, die sich Atteste besorgen, um im Herbst nicht unterrichten zu müssen
Auch bei uns sind Fehler passiert. Das Kanzleramt hat in gewohnter Manier mehr als ungestüm ins Bildungsressort hineinregiert. Zehntausende Schüler waren abgetaucht, Tausende aus Deutschförderklassen wurden nicht erreicht. Die digitalen Endgeräte hätten spätestens zu Ostern bei den Schülern ankommen müssen. Maskenpflicht bei jungen Schülern konnte nicht funktionieren. Und für Oberstufenschüler blieben gerade ein paar Tage Schicht-Präsenzunterricht.
Schulschluss war für zu viele Schüler heuer bereits Mitte März. Und bei vielen, die sich nicht ausklinkten, wird die monatelange Schulschlusspanik erst mit Verspätung herauskommen. Die posttraumatischen Folgen werden laut Jugendpsychiatern oft erst nach einem halben Jahr – also im Herbst – auftreten. Damit werden die Schulen auf jeden Fall zu kämpfen haben – denn Schulpsychologen fehlen.
Die Bildungsschere ist heuer weiter aufgegangen. Nicht nur an Schulen, sondern auch an den Unis. Studierende aus sozial schwachen Verhältnissen waren im Fernlehrsemester benachteiligt. Und für die vielen geringfügig Beschäftigten unter den Studenten gab es weder Kurzarbeit noch Arbeitslosengeld. Echte Digitallehre hat meist nur dort perfekt funktioniert, wo sie zuvor schon angewendet wurde. Für andere hieß es zu oft: „Lesen Sie im Skriptum Seite 105 bis 150!“Beim Thema Schule waren alle betroffen und aufgeregt – die Tür zum Uni-Elfenbeinturm ließ sich da viel widerstandsloser vernageln.
Eine stärkere Digitalisierung der Lehre, bei der sowohl an Schulen als auch an Unis ein dramatischer Aufholbedarf aufgezeigt wurde, wird kommen. Sie ist sicher kein Allheilmittel, sondern aktuell auch eine Gefahr. Denn in ihr steckt – wie verlockend in finanziellen Krisenzeiten – massives Einsparpotenzial.
Wir müssen auch Unis und Schulen als systemrelevant anerkennen. Das macht die im Herbst vielleicht zu treffenden großen Entscheidungen bestimmt nicht leichter.
HELMUT.SCHLIESSELBERGER@SN.AT
Digitalisierung birgt auch eine Gefahr