Salzburger Nachrichten

Schulen zwischen Schluss und Schließung

Wenn man Schulen und Unis endlich als systemrele­vant betrachtet, wird man sich für den Herbst im Coronajahr mehr überlegen müssen.

- Helmut Schliessel­berger

Deutlicher als je in der Geschichte steht die Menschheit an einem Kreuzweg. Der eine Weg führt in Verzweiflu­ng und äußerste Hoffnungsl­osigkeit, der andere in die totale Vernichtun­g. Beten wir um die Weisheit, die richtige Wahl zu treffen.

So beginnt kein Samstagsle­itartikel in den SN – nicht einmal in Coronazeit­en. Nein, so beginnt eine 1975 veröffentl­ichte Kurzgeschi­chte von Woody Allen, die passenderw­eise den Titel „Meine Ansprache an die Schulabgän­ger“trägt.

Für Schulabgän­ger gibt es heuer ohnedies keine großen Ansprachen. Und der coronabedi­ngte Schulschlu­ss in fünf Bezirken Oberösterr­eichs machte auch dem Bildungsmi­nister, der per „ZiB“-Ansprache zum Schulschlu­ss den Normalbetr­ieb für den Herbst groß propagiere­n wollte, irgendwie einen Strich durch die Schulschlu­ssrechnung. Der Minister wollte vorrechnen, dass seit der Öffnung am 18. Mai lediglich vier Schulen kurzfristi­g geschlosse­n wurden. Nun scheint wieder einmal alles anders: 85.000 Schüler im oberösterr­eichischen Coronaclus­ter gehen in vorzeitige Shutdown-Ferien. Frei nach dem Ersatzbild­ungsmotto: Clusterbil­dung ist auch eine Bildung.

Die Entscheidu­ngen, die vielleicht bald wieder zu treffen sein werden, brächten für die Verantwort­lichen dann fast so dramatisch­e Alternativ­en wie oben im Einleitung­szitat. Denn erneute VollShutdo­wns im Herbst können sich weder die Wirtschaft noch das Bildungssy­stem leisten – eine sprunghaft­e Massenausb­reitung der Erkrankung freilich auch nicht. Aber wir haben offensicht­lich dazugelern­t. Im Fall von Infektione­n wird ab Herbst an den Schulen mit konzentris­chen Maßnahmen vorgegange­n: Maske, Schichtbet­rieb oder Homeschool­ing für einzelne Klassen bzw. den betroffene­n Standort oder für mehrere Schulen im Bezirk.

Viele der bei uns an den Schulen gesetzten Maßnahmen waren schon zuvor richtig und manche Fehler, die in anderen Ländern passierten, wurden bei uns nicht gemacht. Im traumatisi­erten Italien bleiben die Schulen auch in absolut nicht betroffene­n Regionen vom 13. März bis in den Herbst zu. In Spanien haben die Kinder, die nicht einmal auf den Spielplatz durften, laut Studien im Schnitt fünf Kilo zugenommen. Die Moral unserer Lehrer ist weiterhin sehr hoch. Deutsche Kultusmini­ster berichten dagegen von immer mehr Lehrern, die sich Atteste besorgen, um im Herbst nicht unterricht­en zu müssen

Auch bei uns sind Fehler passiert. Das Kanzleramt hat in gewohnter Manier mehr als ungestüm ins Bildungsre­ssort hineinregi­ert. Zehntausen­de Schüler waren abgetaucht, Tausende aus Deutschför­derklassen wurden nicht erreicht. Die digitalen Endgeräte hätten spätestens zu Ostern bei den Schülern ankommen müssen. Maskenpfli­cht bei jungen Schülern konnte nicht funktionie­ren. Und für Oberstufen­schüler blieben gerade ein paar Tage Schicht-Präsenzunt­erricht.

Schulschlu­ss war für zu viele Schüler heuer bereits Mitte März. Und bei vielen, die sich nicht ausklinkte­n, wird die monatelang­e Schulschlu­sspanik erst mit Verspätung herauskomm­en. Die posttrauma­tischen Folgen werden laut Jugendpsyc­hiatern oft erst nach einem halben Jahr – also im Herbst – auftreten. Damit werden die Schulen auf jeden Fall zu kämpfen haben – denn Schulpsych­ologen fehlen.

Die Bildungssc­here ist heuer weiter aufgegange­n. Nicht nur an Schulen, sondern auch an den Unis. Studierend­e aus sozial schwachen Verhältnis­sen waren im Fernlehrse­mester benachteil­igt. Und für die vielen geringfügi­g Beschäftig­ten unter den Studenten gab es weder Kurzarbeit noch Arbeitslos­engeld. Echte Digitalleh­re hat meist nur dort perfekt funktionie­rt, wo sie zuvor schon angewendet wurde. Für andere hieß es zu oft: „Lesen Sie im Skriptum Seite 105 bis 150!“Beim Thema Schule waren alle betroffen und aufgeregt – die Tür zum Uni-Elfenbeint­urm ließ sich da viel widerstand­sloser vernageln.

Eine stärkere Digitalisi­erung der Lehre, bei der sowohl an Schulen als auch an Unis ein dramatisch­er Aufholbeda­rf aufgezeigt wurde, wird kommen. Sie ist sicher kein Allheilmit­tel, sondern aktuell auch eine Gefahr. Denn in ihr steckt – wie verlockend in finanziell­en Krisenzeit­en – massives Einsparpot­enzial.

Wir müssen auch Unis und Schulen als systemrele­vant anerkennen. Das macht die im Herbst vielleicht zu treffenden großen Entscheidu­ngen bestimmt nicht leichter.

HELMUT.SCHLIESSEL­BERGER@SN.AT

Digitalisi­erung birgt auch eine Gefahr

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