Werden britische Gewässer tabu?
Im Poker mit Brüssel über die Zeit nach dem Brexit hat Boris Johnson einen einzigen Trumpf in der Hand: Die Fischereirechte.
Im Hafen von Ostende sind nur wenige Fischtrawler zu sehen. „Die meisten sind gerade auf See“, sagt Emiel Brouckaert, Chef der belgischen Fischereivereinigung. Die größeren Schiffe können für mehrere Wochen unterwegs sein, bevor sie wieder in den Heimathafen an der belgischen Nordseeküste zurückkehren. Sie fischen im Ärmelkanal, in der Nordsee, der Keltischen und Irischen See. Scholle und Seezunge fangen sie vor allem. Das war nie anders. „Wir waren schon immer in britischen Gewässern unterwegs“, sagt Brouckaert. Aber nun gibt es ein Problem. Es heißt Brexit.
Boris Johnson, mittlerweile Premierminister in London, hat die Fischerei schon während der Kampagne zum Austrittsreferendum 2016 zur nationalen Frage hochstilisiert. In der Brexit-Folklore ist der Fischer in seinem kleinen Dorf an Cornwalls Küste das Beispiel dafür, wie übel die EU dem Land mitspielt. Nur ein Drittel des Fischs aus den ertragreichen britischen Fanggründen wird laut BBC von britischen Fischern gelandet. Aber natürlich dürfen britische Trawler auch in französischen, spanischen oder deutschen Gewässern fischen.
Mit dem EU-Austritt, so das Versprechen Johnsons, gewinnt Großbritannien die Kontrolle über seine Grenzen zurück, auch und vor allem über die eigenen Gewässer. Sollte das bedeuten, dass die EUStaaten dort ihre Fischereirechte verlieren, wird das zur Existenzbedrohung für viele Fischer an den Küsten Nordeuropas – in Belgien, Deutschland und den Niederlanden genauso wie in Frankreich.
„Der Fang aus britischen Gewässern bringt 50 Prozent unserer Einnahmen“, erklärt Emiel Brouckaert in seinem Büro am Fischereidock von Ostende. Das entspricht rund 40 Millionen Euro für die belgische Fischerei. Französische Boote holen pro Jahr Fisch im Wert von 182 Millionen Euro aus der britischen Wirtschaftszone, die ein Gebiet von bis zu 200 Meilen vor der Küste umfasst. Das ist ein Drittel der gesamten französischen Fischereieinnahmen.
Am 31. Jänner ist Großbritannien aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende läuft eine Übergangsfrist. So lang bleibt noch alles unverändert. Um Zölle und Abgaben in der Zeit danach zu vermeiden, versuchen die EU und das Königreich, ein Freihandelsabkommen zu schließen. Die Fischereifrage zählt zu den schwierigsten.
Es ist der einzige Bereich, in dem die EU etwas von London will. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat bereits gedroht: Ohne Zugang zu den britischen Gewässern werde es keinen Handelsvertrag geben.
Das Thema ist auf beiden Seiten des Kanals hoch emotional. Dabei ist der Fischereisektor überall in Europa in den vergangenen Jahrzehnten enorm geschrumpft. „Anfang des Jahrhunderts hatten wir noch 150 Schiffe“, erzählt der belgische Berufsvertreter Brouckaert. „Jetzt sind es 65.“400 Fischer sind in Belgien noch aktiv. Alle neun Fischereistaaten der EU zusammen können noch 18.000 Mann auf 3500 Trawlern ausfahren lassen. In
Großbritannien wie in auch in Belgien und der gesamten EU trägt der Fischereisektor weniger als 0,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Der Schrumpfungsprozess der Fischerei ging einher mit einer Erholung der Fischbestände mit Ausnahme des Kabeljaus. „Wir sind auf dem richtigen Weg zu einer nach
SAMSTAG, 4. JULI 2020 haltigen Fischerei“, betont Brouckaert. Großbritannien solle „anerkennen, welche Erfolge das EU-System hat“. Es soll beibehalten werden, fordert er. So lautet auch das Verhandlungsmandat Michel Barniers.
Derzeit verhandeln die Staaten in Brüssel jährlich die zulässigen Fangmengen für Kabeljau, Hering &
Co. Die Maschengröße der Netze ist vorgegeben, Beifang muss vermieden werden. Die erlaubten Kontingente werden nach einem fixen Schlüssel auf die einzelnen Staaten verteilt. Grundlage sind die historischen Fangmengen von 1973 bis 1978. So wurde es nach dem EU-Beitritt Großbritanniens ausverhandelt und so ist es noch heute. Das führt dazu, dass etwa französische Fischer 84 Prozent der KabeljauQuote im britischen Kanal fangen dürften, kritisiert London.
Boris Johnson will die EU-Flotte nicht aussperren. Aber er verlangt jährliche Neuverhandlungen nicht nur über Fangmengen, sondern auch über deren Verteilung – für Brüssel und die EU-Fischereistaaten nicht nur ein bürokratischer Albtraum. Man würde sich auch erpressbar machen, jedes Jahr aufs Neue.
Der gesamte Sektor dies- und jenseits des Kanals ist eng miteinander verwoben. So landen belgische Boote ihren Fang großteils in Großbritannien an und schicken ihn per Lkw auf den Kontinent zurück, während sie die Leinen wieder losmachen, um weiterzufischen.
Sollte es keine Einigung geben, haben auch die britischen Fischer nichts zu gewinnen. Sie verkaufen 70 Prozent ihres Fangs in die EU derzeit noch zollfrei.
Bisher haben Brüssel und London keine Fortschritte in den Verhandlungen erreicht. Was, wenn ein harter Brexit kommt? Emiel Brouckaert zuckt mit den Schultern: „Wir wollen das jetzige System des gegenseitigen Zugangs beibehalten. Wir haben keinen Plan B.“
„Waren immer in britischen Gewässern.“
Emiel Brouckaert,
Fischereivertreter