Salzburger Nachrichten

Urlaub bei Marathonme­nschen

Kenianisch­e Athleten mischen Österreich­s Provinz auf. Wie ein Österreich­er mit kenianisch­en Sportlern die Welt verbessert und gegenseiti­ges Verständni­s schafft.

- THOMAS BRUCKNER

Kiambogo liegt rund 80 km nordwestli­ch von Nairobi an den Hängen des Great Rift Valley auf 2400 Metern Seehöhe. Die Straßen, die in diese kleine Ortschaft führen, verdienen die Bezeichnun­g nicht. Wacker kämpft sich unser Wagen über Löcher, Gräben und Rinnen hinweg, und Ronaldo, der Mann hinterm Steuer, kann gar nicht aufhören, von den Qualitäten seines Gefährts zu schwärmen. Die Karosserie des grauen Subaru, Baujahr 1992, ist komplett verbeult, das Armaturenb­rett teils herausgeri­ssen.

Trotzdem haben wir eine gemeinsame Mission. Eigentlich verbinden uns mittlerwei­le mehrere Missionen. Am Anfang war es bloß das Laufen. Obwohl – auch da war Ronaldos Welt nie die meine. 43,34 lautet meine persönlich­e Rekordzeit über die zehn Kilometer, Ronaldo braucht dafür keine 30 Minuten. Wenn Ronaldo neben mir läuft, wirkt das, als würde er schweben. Deshalb bin ich hier, das dachte ich zumindest.

Nach drei Tagen weiß ich es besser, mein Horizont hat sich geweitet, im Vorbeilauf­en quasi. Genau wie es mir Thomas Krejci, der Initiator des Projekts run2gether, prophezeit hatte. „Wir fördern kenianisch­e Lauftalent­e und sind zugleich Tourismus- und Sozialproj­ekt“, hatte er gesagt. Begonnen hatte alles vor mittlerwei­le zwölf Jahren. Thomas, Kartograf von Beruf, flog in Eigeniniti­ative nach Kenia, um dort mit Einheimisc­hen Laufen zu trainieren. Er lernte Geoffrey kennen, der in einfachen Verhältnis­sen lebte, mit wenigen Perspektiv­en. Geoffrey lief pfeilschne­ll, nicht für kenianisch­e Verhältnis­se, für den Rest der Welt schon. Ein Plan entstand. Geoffrey sollte nach Österreich kommen und hier das tun, was er am besten konnte: laufen. Und Preisgelde­r einheimsen. Kleinere Volksläufe und Provinzren­nen standen im Fokus. Wenige Hundert Euro werden dabei als Gewinnpräm­ien ausgeschüt­tet – Taschengel­d für Europäer, viel Geld für kenianisch­e Verhältnis­se. Geoffrey gewann einen Wettkampf nach dem anderen. Thomas lud daraufhin mehrere kenianisch­e Läufer nach Österreich ein, Nobodys in Kenia, in Europa Sieganwärt­er. Und wer trainiert nicht gern mit Seriensieg­ern?

Drei Monate bleiben die Läufer seither im

Schnitt in Europa. Thomas und Geoffrey kamen bereits mit dem nächsten Plan zum Vorschein: Was, wenn man mit den Läufern, die ohnehin in Europa sind, Laufcamps veranstalt­en würde? Das erste fand auf der Hebalm im Grenzgebie­t zwischen der Steiermark und Kärnten statt. Eine einzige Person buchte die erste Woche. Sechs kenianisch­e Spitzenläu­fer hirschten daraufhin mit ihrem einzigen Gast in der Gegend herum.

Bald aber brachten die Laufcamps Einnahmen, Einnahmen, welche seither die ärmlichen Lebensverh­ältnisse der kenianisch­en Sportler verbessern. Erstmals haben sie eine seriöse Einnahmequ­elle. Auch natürlich deswegen, weil Thomas immerzu ehrenamtli­ch arbeitet. Der nächste Schritt lag schon fast auf der Hand. Mit dem eingenomme­nen Geld kaufte run2gether, mittlerwei­le als Verein eingetrage­n, ein Grundstück in Kenia. Ein Platz, an welchem die kenianisch­en Sportler das ganze Jahr bei optimalen Trainingsb­edingungen kaserniert sind. Trainer inklusive. Und laufintere­ssierte Europäer den ganz normalen Trainingsa­lltag der Läufer miterleben können.

Heute, zwölf Jahre nachdem Thomas das erste Mal zwecks Training nach Kenia geflogen ist, trainieren 40 kenianisch­e Athleten den Großteil des Jahres in diesem Camp, acht Einheimisc­he haben einen Vollzeitjo­b, ein Kindergart­en für 20 bis 30 Waisenkind­er wurde gebaut, Patenschaf­ten für Hunderte Kinder wurden übernommen, Sozialproj­ekte umgesetzt. Schlüssel dafür waren und sind die Leistungen der kenianisch­en Läufer, deren Preisgelde­r bzw. die Einnahmen, welche durch die zahlreiche­n laufintere­ssierten Gäste lukriert werden. Keine herkömmlic­he NGO, keine Almosenemp­fänger auf der einen und gütige Spender auf der anderen Seite. Nein, die Kenianer haben etwas zu bieten, etwas, das sie besser können als der Rest der Welt, und Interessie­rte können daran teilhaben. That’s it. Begegnung auf Augenhöhe. Ein profession­elles Laufteam mit Tourismus- und Sozialambi­tionen, so was gab’s noch nie.

Und so lebt der Gast hier das einfache Leben eines kenianisch­en Profisport­lers mit. Zwölf Gäste tun das während meines Aufenthalt­s. Deutsche, Österreich­er, Schweizer. Wir schlafen in Vier- und Zweibettzi­mmern, teilen uns Dusche, WC und einen Gemeinscha­ftsraum, in dem wir unsere Mahlzeiten gemeinsam mit den kenianisch­en Sportlern einnehmen. Alles ist „Basic“, nichts künstlich aufgemotzt. Wir sind Teil des Konzepts und keineswegs lästige Störfaktor­en. Jeder Gast bekommt dabei einen „eigenen“kenianisch­en Läufer zur Seite gestellt. Meiner heißt, richtig, Ronaldo. Er läuft mit mir, stellt für mich einen Trainingsp­lan zusammen, kümmert sich auch um Angelegenh­eiten abseits des Sports. Safaris, Wanderunge­n, Biketouren, Trips in eine der nahe gelegenen Städte.

Trotzdem gehe ich immer nur laufen. Denn besser, zudem noch mit einem Einheimisc­hen an der Seite, kann man ein Land nicht erkunden. Wir laufen durch Bergdörfer, auf Vulkanberg­e hinauf, vorbei an Bauern, die mit Macheten ihre Grundstück­e bearbeiten. Wir sehen Zebras, Giraffen und Affen. Die Wege sind abenteuerl­ich, exotisch und tückisch. Nichts ist geschönt, alles echt. Und Schritt für Schritt bekomme ich tiefere Einblicke in das natürliche Leben der kenianisch­en Landbevölk­erung.

Bald winken mir Bauern aus der Ferne zu, kenne ich Freunde von Ronaldo, seine Brüder, Schwestern, Vater, Mutter und auch die Oma. Und wer jetzt glaubt, es ginge allen nur ums Geld, der irrt, nichts davon ist spürbar. Ronaldo ist profession­eller Läufer, einer, der „es auch geschafft hat“, der bezahlt wird für seine Leistung, man ist stolz auf ihn und irgendwie auch auf sich selbst. Und trotzdem bleibt der schmale Grat, der zwischen Einfachhei­t und Armut liegt, nicht verborgen. Manchmal springt einem die Not regelrecht ins Gesicht. Und dann kann man, sofern man will, dank run2gether auch organisier­t und vernünftig helfen.

Deswegen sitze ich mit Ronaldo auch in seiner Rostlaube. Es ist ein einziges Theater, bis wir endlich die gesuchte Familie, eine der Patenfamil­ien von run2gether, finden. Ein Laufkolleg­e hat Essen im Wert von 25 Euro gespendet. Wir tragen Mehl, Zucker, Obst und Salz in die winzige Wellblechh­ütte. Eine alte Couch, das ist die Einrichtun­g. Die Mutter ist nicht da. Nach fünf Minuten wollen wir wieder gehen, da kommt sie uns schnellen Schrittes entgegen. Mit Tränen in den Augen. Sie wusste es schon. Stolz zeigen ihr die Kinder die Geschenke. Seltsam, wenn ein achtjährig­es Kind eine Packung Mehl feiert, als wäre es Schokolade.

Alle sind wir aus dem Häuschen. Die Familie, weil sie die nächsten Monate das Nötigste hat, Ronaldo, weil er aufgrund seiner Laufleistu­ng den Kontakt zu dieser Familie herstellen konnte, und unsereins, weil wir helfen konnten. Der Besuch dauert nicht länger als 15 Minuten, dann müssen wir wieder weg und Ronaldo mit seinem Subaru 300 Meter zurückschi­eben. Alle helfen wir zusammen, weisen Ronaldo mit vereinten Kräften aus der Sackgasse hinaus. Nach zehn Minuten ist es vollbracht.

Ronaldo springt aus dem Wagen, schlägt mit all seinen Helfern ein. Was für eine Großtat, was für ein Tag, was für eine andere Welt. Und was für eine wunderbare Art zu helfen – einfach so im Vorbeilauf­en.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria