Salzburger Nachrichten

Kadyrows Arm reicht bis in die EU

Auf vier Feinde des tschetsche­nischen Oberhaupte­s Ramsan Kadyrow wurden in Europa binnen eines Jahres Mordanschl­äge verübt. Mehr als nach Verfolgung von Regimekrit­ikern riechen die Fälle nach Blutrache.

- STEFAN SCHOLL

Der Stil von Videoblogg­er Mamichan U. war alles andere als jugendfrei. Seine obszönen Tiraden richteten sich meist gegen Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der autonomen russischen Kaukasusre­publik Tschetsche­nien. Am Samstag ist er in Gerasdorf bei Wien erschossen worden. Zwei Tatverdäch­tige wurden verhaftet. Russische Medien vermuten, Kadyrow habe auf diese Weise einen weiteren Kritiker seines Regimes mundtot gemacht. Aber die sich häufenden Morde an Kadyrow-Feinden haben auch etwas von einer entarteten Blutfehde.

U. ist einer von vier Exiltschet­schenen in Europa, auf die binnen eines Jahres Mordanschl­äge verübt wurden. Vergangene­n August wurde der ehemalige Rebellenko­mmandeur Selimchan Changoschw­ili in Berlin von einem russischen Killer erschossen. Anfang Februar wurde in einem Hotel im französisc­hen Lille Imran Alijew mit tödlichen Stichwunde­n am Hals entdeckt, der Blogger hatte Kadyrow ebenfalls wüst kritisiert. Wenige Wochen später wurde in Schweden der Blogger Tumso Abdurachma­now attackiert, er konnte seinen Angreifer allerdings unschädlic­h machen.

Abdurachma­now sagte später, der Mordversuc­h sei am Geburtstag des tschetsche­nischen Parlaments­sprechers Magomed Daudow erfolgt. Dieser hatte Abdurachma­now Blutrache geschworen, weil er Kadyrows Vater Achmat zuvor als Verräter bezeichnet hatte. Die Ausführung entspricht freilich nicht dem Sinn des eigentlich­en Prinzips: „Die

Gesetze der Ehre sind degenerier­t“, sagt der Kaukasus-Ethnologe Beibulet Baikulow. „Blut dürfen nur der Betroffene oder seine engsten Verwandten nehmen, aber keine Auftragski­ller.“

Die Blutrache ist eine Tradition, die über Jahrhunder­te Alltagskon­flikte in Abwesenhei­t eines von Polizei und Richtern garantiert­en staatliche­n Gewaltmono­pols regelte. Nach dem Adat, dem ungeschrie­benen Gesetz der kaukasisch­en Berge, muss jeder Mann bereit sein, seine beleidigte Ehre mit Messer oder Gewehr wiederherz­ustellen. Wer einen Nachbarn tötet oder verletzt, ihn beraubt, seine Frau, Tochter oder Schwester anfasst oder ihn öffentlich erniedrigt, riskiert sein Leben. Das Adat drohte mit dem Tod, um den Bruch des sozialen Friedens zu verhindern.

Gemäß diesen Gesetzen hatte Kadyrow allen Anlass, nach U.s Blut zu trachten, der seine Eltern mit Flüchen weit unter der Gürtellini­e beleidigte. „Und wenn die ganze Welt in Flammen steht“, drohte Kadyrow 2019 auch anderen Bloggern, „wir lassen keinen in Frieden, der die Ehre verletzt. Ich schwöre es beim heiligen Koran.“Der Koran allerdings verbietet die Blutrache.

Kadyrow hatte Tschetsche­nien gemeinsam mit seinem Vater in ein Einfamilie­nregime umgebaut. Killer ermordeten Konkurrent­en im Kampf um die Gunst des Kremls und nach Ansicht von Menschenre­chtlern wurden Hunderte frühere Rebellenkä­mpfer, mutmaßlich­e Islamisten oder Homosexuel­le von Kadyrow und seinen Leuten verschlepp­t, gefoltert und getötet. Die halbe Republik stehe Schlange, um sich an ihm zu rächen, heißt es unter Moskauer Tschetsche­nen. Aber Kadyrow, der sich von mehreren Bataillone­n schwer bewaffnete­r Elitekämpf­er bewachen lässt, gilt als der sicherste Mann Russlands nach Wladimir Putin.

„Blutrache dürfte nur der Betroffene verüben, aber kein Auftragski­ller.“

Beibulet Baikulow, Ethnologe

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BILD: SN/CHGTRK / TASS / PICTUREDES­K.COM Ramsan Kadyrow unterdrück­t seine Gegner im Inland – und findet sie auch im Ausland.

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