Kadyrows Arm reicht bis in die EU
Auf vier Feinde des tschetschenischen Oberhauptes Ramsan Kadyrow wurden in Europa binnen eines Jahres Mordanschläge verübt. Mehr als nach Verfolgung von Regimekritikern riechen die Fälle nach Blutrache.
Der Stil von Videoblogger Mamichan U. war alles andere als jugendfrei. Seine obszönen Tiraden richteten sich meist gegen Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der autonomen russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien. Am Samstag ist er in Gerasdorf bei Wien erschossen worden. Zwei Tatverdächtige wurden verhaftet. Russische Medien vermuten, Kadyrow habe auf diese Weise einen weiteren Kritiker seines Regimes mundtot gemacht. Aber die sich häufenden Morde an Kadyrow-Feinden haben auch etwas von einer entarteten Blutfehde.
U. ist einer von vier Exiltschetschenen in Europa, auf die binnen eines Jahres Mordanschläge verübt wurden. Vergangenen August wurde der ehemalige Rebellenkommandeur Selimchan Changoschwili in Berlin von einem russischen Killer erschossen. Anfang Februar wurde in einem Hotel im französischen Lille Imran Alijew mit tödlichen Stichwunden am Hals entdeckt, der Blogger hatte Kadyrow ebenfalls wüst kritisiert. Wenige Wochen später wurde in Schweden der Blogger Tumso Abdurachmanow attackiert, er konnte seinen Angreifer allerdings unschädlich machen.
Abdurachmanow sagte später, der Mordversuch sei am Geburtstag des tschetschenischen Parlamentssprechers Magomed Daudow erfolgt. Dieser hatte Abdurachmanow Blutrache geschworen, weil er Kadyrows Vater Achmat zuvor als Verräter bezeichnet hatte. Die Ausführung entspricht freilich nicht dem Sinn des eigentlichen Prinzips: „Die
Gesetze der Ehre sind degeneriert“, sagt der Kaukasus-Ethnologe Beibulet Baikulow. „Blut dürfen nur der Betroffene oder seine engsten Verwandten nehmen, aber keine Auftragskiller.“
Die Blutrache ist eine Tradition, die über Jahrhunderte Alltagskonflikte in Abwesenheit eines von Polizei und Richtern garantierten staatlichen Gewaltmonopols regelte. Nach dem Adat, dem ungeschriebenen Gesetz der kaukasischen Berge, muss jeder Mann bereit sein, seine beleidigte Ehre mit Messer oder Gewehr wiederherzustellen. Wer einen Nachbarn tötet oder verletzt, ihn beraubt, seine Frau, Tochter oder Schwester anfasst oder ihn öffentlich erniedrigt, riskiert sein Leben. Das Adat drohte mit dem Tod, um den Bruch des sozialen Friedens zu verhindern.
Gemäß diesen Gesetzen hatte Kadyrow allen Anlass, nach U.s Blut zu trachten, der seine Eltern mit Flüchen weit unter der Gürtellinie beleidigte. „Und wenn die ganze Welt in Flammen steht“, drohte Kadyrow 2019 auch anderen Bloggern, „wir lassen keinen in Frieden, der die Ehre verletzt. Ich schwöre es beim heiligen Koran.“Der Koran allerdings verbietet die Blutrache.
Kadyrow hatte Tschetschenien gemeinsam mit seinem Vater in ein Einfamilienregime umgebaut. Killer ermordeten Konkurrenten im Kampf um die Gunst des Kremls und nach Ansicht von Menschenrechtlern wurden Hunderte frühere Rebellenkämpfer, mutmaßliche Islamisten oder Homosexuelle von Kadyrow und seinen Leuten verschleppt, gefoltert und getötet. Die halbe Republik stehe Schlange, um sich an ihm zu rächen, heißt es unter Moskauer Tschetschenen. Aber Kadyrow, der sich von mehreren Bataillonen schwer bewaffneter Elitekämpfer bewachen lässt, gilt als der sicherste Mann Russlands nach Wladimir Putin.
„Blutrache dürfte nur der Betroffene verüben, aber kein Auftragskiller.“
Beibulet Baikulow, Ethnologe