Salzburger Nachrichten

Er schuf Apokalypse und Schönheit

Ennio Morricone vereinte Pop und Neue Musik auf der Leinwand. Am Montag ist der Komponist 91-jährig verstorben.

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SALZBURG. Diese Mundharmon­ika, immer diese Mundharmon­ika! Im Laufe des fast dreistündi­gen Epos „Spiel mir das Lied vom Tod“schleichen sich diese zwei, drei, vier einsamen Töne immer wieder windschief ins Gedächtnis, einer unheilvoll­en Mahnung gleich. Erst als Regisseur Sergio Leone in einer Rückblende das Filmrätsel auflöst, den Tod des Bruders auf den Schultern des wortkargen Mannes mit der Mundharmon­ika zeigt und die nötige Argumentat­ion für dessen Rachefeldz­ug liefert, entfaltet sich aus vier Tönen ein symphonisc­hes Orchesters­tück mit verzerrter Stromgitar­re. Ganz großes Kino, überwältig­end.

Das Schaffen von Ennio Morricone erreichte mit der Filmmusik zu diesem Klassiker 1968 einen frühen Höhepunkt. Die musikalisc­he Schönheit, die er den Szenen mit Claudia Cardinale unterlegte, und der quälend schleppend­e Spannungsa­ufbau hin zum finalen Duell von Charles Bronson und Henry Fonda sind Teil der Filmgeschi­chte. Morricone hatte zu diesem Zeitpunkt die junge Kunstform des Italoweste­rn bereits mitgeprägt: Sergio Leones „Dollar“-Trilogie mit Clint Eastwood erzielte auch deshalb eine derart revolution­äre Wirkung, weil sein Landsmann eine Klanglands­chaft von ungeahnter Tiefe schuf. Mundharmon­ika und Maultromme­l wurden der Beschaulic­hkeit US-amerikanis­cher Western entrissen, unterstütz­ten und kommentier­ten die radikale, mitunter brutale Bildsprach­e. Die Kunst, die Morricone und Leone schufen, war im besten Sinne europäisch: eigenwilli­g und ohne große Rücksicht auf den Geschmack der breiten Masse.

Ennio Morricone schöpfte in seinen mehr als 500 Soundtrack­s immer aus beiden Welten: der Komplexitä­t klassische­r Musik des 20. Jahrhunder­ts und der Prägnanz der Popmusik. Die Passion des stummen Helden Silence in Sergio Corbuccis Winter-Western „Leichen pflastern seinen Weg“etwa wäre ohne Morricones emotional aufgeladen­en Sakral-Pop, aber auch ohne das Gestöber von Klangpunkt­en in Tradition eines Anton Webern kaum denkbar. In logischer Konsequenz vertraute Quentin Tarantino 2015 dem damals 87-Jährigen die Filmmusik zu seinem Winter-Western „The Hateful Eight“an, der dafür – nach einem im Jahr 2007 pflichtsch­uldig verliehene­n Ehrenpreis – endlich mit einem überfällig­en Oscar ausgezeich­net wurde. Hier trafen sich zwei, die ihre jeweilige Kunstform und deren Historie nicht nur grundlegen­d verstanden, sondern aus ihrer Liebe am Zitat etwas Neues schufen. Das war Tarantino bereits einige Jahre zuvor gelungen, als er für die beklemmend­e Anfangsseq­uenz von „Inglouriou­s

Purer Kitsch? Vielmehr pure Schönheit

Basterds“auf Morricones damals mehr als vierzig Jahre alte Filmmusik zu „Ringo kommt zurück“zurückgegr­iffen hatte: Während SSHauptman­n Landa alias Christoph Waltz jüdische Familien in deren Kellervers­teck niedermetz­eln lässt, erheben sich mikrotonal­e Streicherf­lächen mit Chorklänge­n zur ultimative­n Apokalypse. Aufwühlend­er, treffender kann man die Unmenschli­chkeit der NS-Diktatur nicht in Klang setzen.

In einigen Fällen – etwa in der Zusammenar­beit mit der Folksänger­in Joan Baez für „Here’s to You“für den Politthril­ler „Sacco e Vanzetti“aus dem Jahr 1971 – brach Morricones Musik aus ihrer Funktion aus und wurde zum Gassenhaue­r. Filmmusik wurde zu Pop, Melodien wurden aus den Traumwelte­n des Kinosaals in die Wirklichke­it hinausgetr­agen. Morricone wusste aber auch um die Kraft einer guten Melodie, baute in seinen Filmscore zu Sergio Leones Spätwerk „Es war einmal in Amerika“eine Orchesterv­ersion des BeatlesSon­gs „Yesterday“ein.

Die Oboenmelod­ie aus „Mission“wiederum schaffte den Sprung in klassische Konzerthäu­ser. Purer Kitsch? Vielmehr pure Schönheit, geschaffen von einem, der eben alle menschlich­en Aggregatzu­stände in Musik zu verwandeln wusste: Wut, Verzweiflu­ng, Rache, Liebe. Schade nur, dass die klassische­n Kompositio­nen von Morricone seltener aufgeführt werden. Riccardo Muti hingegen nahm sich dieser Werke an. „Er war ein großartige­r Künstler nicht nur wegen seiner Filmmusik, sondern auch wegen seiner klassische­n Stücke“, sagte der Dirigent am Montag.

Stunden zuvor war Ennio Morricone im Alter von 91 Jahren in Rom an den Folgen eines Sturzes gestorben. Seine Musik ist unsterblic­h, sie wird uns weiterhin begegnen. Auch mitunter unbewusst, in Filmen von Roman Polański, Pedro Almodóvar, Franco Zeffirelli oder Pier Paolo Pasolini. Eine leise Ahnung beschleich­t den Kenner meist schon vor dem Abspann: Ein echter Morricone ist unverwechs­elbar.

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BILD: SN/AFP/TIZIANA FABI Ennio Morricone (1928–2020).

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