Hilfe aus aller Welt erreicht das verwüstete Beirut
Als Zeichen der Solidarität ist Frankreichs Staatschef Macron nach Beirut gereist. Er pocht auf politische Reformen, wütende Libanesen bitten ihn um Hilfe bei einem Regimewechsel.
Eine aufgebrachte Menschenmenge hat beim Besuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im verwüsteten Beirut dessen Unterstützung zum Sturz der libanesischen Regierung gefordert. „Helfen Sie uns!“und „Revolution!“, skandierten die Menschen am Donnerstag bei Macrons Visite im christlichen Stadtviertel Gemmayze.
Macron forderte die libanesische Regierung zu Reformen, zum Kampf gegen Korruption und insgesamt zu einem „Systemwechsel“auf. Zugleich warb er um internationale Hilfe für das Land.
Zwei gewaltige Explosionen hatten am späten Dienstagabend die Stadt erschüttert. Nach Angaben der Behörden wurden dabei mindestens 137 Menschen getötet und mehr als 5000 verletzt, Dutzende werden noch vermisst. Bis zu 300.000 Menschen wurden obdachlos. Die Weltgesundheitsorganisation brachte am Donnerstag 20 Tonnen Hilfsgüter ins Land. Die EU sagte Nothilfe in Höhe von mehr als 33 Millionen Euro zu, um medizinische Ausrüstung zu finanzieren. Aus der Türkei, Griechenland, Zypern und Katar traf ebenfalls Hilfe ein. Selbst Israel, das mit dem Libanon eigentlich keine diplomatischen Beziehungen pflegt, will helfen.
Ein Österreicher ist an führender Stelle bei der Hilfe für den Libanon tätig. Hauptmann Gernot Hirschmugl koordiniert für die Vereinten Nationen Hilfe vor Ort.
BEIRUT. Die schwer traumatisierte Bevölkerung stehe im Mittelpunkt seiner Visite, betonte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag, bevor er sich durch eine aufgebrachte Menschenmenge in Beirut drängte. Der französische Staatschef wirkte sichtlich geschockt, als er mit vorsichtigen Schritten durch den durch eine schwere Explosion verwüsteten Beiruter Hafen ging. Bis zu 100 Menschen, befürchtet das libanesische Rote Kreuz, könnten noch unter den Trümmern liegen.
Frankreich, die frühere Kolonialmacht des Libanon, will „allumfassend helfen“. Daran ließ Macron keine Zweifel. Genauso unmissverständlich war aber auch seine politische Botschaft. „Ohne Reformen“, stellte Macron bereits am Flughafen, wo er von seinem libanesischen Amtskollegen Michel Aoun in Empfang genommen worden war, klar, „wird der Libanon weiter versinken“. Erst wenn die Korruption aufhöre, sei ein „Vertrag für den Wiederaufbau des Libanon“möglich.
Der französische Staatschef sprach damit den meisten Libanesen aus dem Herzen. Seit mehreren Jahrzehnten hoffen sie auf einen umfassenden Wandel. Hunderttausende waren dafür seit vergangenem Jahr auf die Straße gegangen. Doch dann kam Corona und die Protestwelle verebbte. Es folgte der dramatische Kursverfall der Lira sowie als vorläufiger Negativhöhepunkt die Apokalypse im Beiruter Hafen, die bis zu 300.000 Libanesen obdachlos machte.
Resignieren kommt für die meisten Libanesen nicht infrage. „Da die Regierung versagt“, sagte eine Beiruter Medizinstudentin einem französischen Fernsehreporter, „werden wir die Dinge wohl selbst in die Hand nehmen müssen.“
In Mar Mikhael und Gemmayze, den schwer verwüsteten Szenevierteln unweit des Hafens, haben sich junge Libanesen zu Arbeitsbrigaden zusammengeschlossen. Engagiert kehren sie Millionen von Glasscherben zusammen, verladen abgerissene Aluminiumverkleidungen
und Wrackteile von Autos auf Laster und Pritschenwagen. Andere klettern die mit Schutt übersäten Treppenhäuser hinauf, um noch immer eingeschlossene ältere Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen, oder sie evakuieren Bergdörfer. Die Welle der Solidarität ist gewaltig. Das war in Krisenzeiten im Libanon schon immer so. Die Bevölkerung hält zusammen, weil sie weiß, dass sie von der Regierung nichts zu erwarten hat.
In den Elan der Freiwilligen mischt sich aber auch zunehmend blanke Wut. Noch immer können es viele Menschen nicht begreifen, wie es passieren konnte, dass 2750 Tonnen Ammoniumnitrat von der Regierung einfach ignoriert wurden. In sechs Briefen hatten die Hafenbehörden an die Justizbehörden appelliert, die explosiven Chemikalien weiterzuverkaufen oder den Streitkräften zur Sicherung zu übergeben. Doch nichts geschah – bis es zur Katastrophe kam.
„Und solchen Leuten sollen wir weiterhin das Regieren überlassen“, sagt Marwan Hassani. Der 29-Jährige hat, wie so viele Libanesen, vor drei Monaten seine Arbeit in einem Schnellimbiss verloren. „Nach dem Horror“vom Dienstagabend werde er sich darauf vorbereiten, der Protestbewegung „neues Leben einzuhauchen“.
Die Nothilfe, die gestern nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus vielen arabischen Staaten, Griechenland und Russland im Libanon eintraf, sei angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Zerstörungen im Land ohnehin nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, glaubt Marwan.
„Die politische Klasse im Libanon sollte in den kommenden Wochen und Monaten auf der Hut sein“, schreibt Faysal Itani, der aus dem Libanon stammende stellvertretende Direktor des Center for Global Policy in einem Meinungsbeitrag für die „New York Times“. „Der Schock wird unweigerlich in Wut umschlagen.“
Den Willen der Libanesen, ihr Land radikal umzukrempeln, bekam am Nachmittag auch Emmanuel Macron zu spüren, als er das Beiruter Szeneviertel Gemmayze besuchte. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, skandierten dort Hunderte den Slogan des „arabischen Frühlings“. „Herr Präsident“, rief eine Frau verzweifelt, „bitte helfen Sie uns dabei, diese Regierung loszuwerden.“Macron lächelte scheu, als er die Bitte hörte, und schwieg.