Das Bild von der „Coronawelle“stimmt nicht
Das Virus hat sich nie versteckt. Menschliches Verhalten wird die Anzahl der Infektionen steuern.
Es tönt wie eine Drohung, die Sache mit der zweiten Welle bei den Coronaansteckungen: Sammelt das Virus irgendwo im Verborgenen neue Kräfte, die bald über die Welt hereinbrechen wie eine tödliche Welle in einem Sturm? Die Meinungen der Experten gehen auseinander, ob man überhaupt von Wellen sprechen soll. Von Wellen sei wohl die Rede, weil die Fallzahlen oft in Kurven dargestellt würden, die wie Wellen aussähen, sagt Heiner Fangerau vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uni Düsseldorf. Pandemien verliefen aber nicht zwangsläufig in Wellen. „Die Pest grassierte im Mittelalter mehr als sieben Jahre lang, da kann man nicht von Wellen sprechen, und bei der Cholera auch nicht.“
Das Verhalten der Menschen dürfte beim Coronavirus ausschlaggebend sein, sagen viele Experten. Wenn viele aus dem Urlaub zurückkehren, in die Arbeit gehen und dort dann wieder mit mehr Menschen auf engerem Raum zusammen sind, wenn es draußen kühler wird und Aktivitäten wieder vermehrt in Räumen stattfinden, dann kann das Virus wieder besser von Mensch zu Mensch springen.
Der deutsche Virologe Hendrik Streeck kann im Verlauf der Coronapandemie in Deutschland derzeit weder einen deutlichen Anstieg der Zahlen noch eine sogenannte zweite Welle erkennen. „Tatsächlich ist der Begriff ,zweite Welle‘ kein epidemiologischer Begriff, sondern er entstand während der Spanischen Grippe, die nach einem ersten Infektionsschub im Herbst mit voller Wucht wiederkehrte“, sagt der Bonner Wissenschafter. „Ich glaube, man sollte den Menschen an die Hand geben, dass sie achtsam sein müssen, aber trotzdem ein Stück weit das tun dürfen, was ihnen wichtig ist“, ergänzt Streeck. Man solle nach pragmatischen Ansätzen suchen. Der deutsche Virologe Christian Drosten schlägt vor, sich nicht mehr auf einzelne Coronafälle, sondern auf Infektionsgruppen zu konzentrieren. Die Behörden sollten sich auf Gruppen konzentrieren, in denen sich viele Menschen mit dem Virus infiziert haben. Wenn sich ein Mitglied eines dieser Cluster infiziert habe, könne auch eine Isolation von fünf Tagen ausreichen. Nötig sei eine entscheidende Strategieänderung: „eine Testung auf Infektiosität statt auf Infektion“. Eine niedrige Viruslast bedeute, dass ein Patient nicht mehr ansteckend sei.
In Bezug auf die Quarantäne hat Österreich bereits die Strategie geändert. So beträgt die Dauer der Quarantäne nicht mehr 14, sondern zehn Tage. Hintergrund sind neue wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach die Inkubationszeit und die Zeit, in der kranke Personen infektiös sind, kürzer sind als angenommen. Ein Großteil der Infizierten zeigt laut Experten schon nach vier oder fünf Tagen Symptome, sehr wenige Erkrankte zeigen diese später. Auch bei der Infektiosität sei ein anderer Zeitraum sichtbar: Kranke Menschen würden nur bis zum achten Tag infektiöses Virusmaterial ausscheiden. Teile des Virus seien allerdings länger nachweisbar. Eine Quarantänezeit von zehn Tagen sei daher ausreichend.