Der Löwe mit dem Menschenkind im Maul
Eine seltene Löwendarstellung findet sich in der Pfarrkirche Kuchl: Das Raubtier mit dem Menschenkind im Maul ziert den Aufgang zur 500 Jahre alten Kanzel. Dieser Predigtstuhl aus Adneter Marmor ist eine Kostbarkeit, der die Zeit rein gar nichts anhaben konnte. Die Jahreszahl 1520 belegt das Alter.
Der Löwe hat das menschliche Wesen mit seinem Maul gepackt. Ist er im Begriff, es zu verschlingen? Oder lässt er seine Beute vielleicht doch noch fallen? Wer die aus „Adneter Scheck“gemeißelte Skulptur ansieht, wird als Erstes Gedanken wie diese haben – das ist heute sicherlich nicht viel anders als vor Jahrhunderten. Vielleicht aber fühlten sich im späten Mittelalter die Betrachter auch noch ganz anders angesprochen.
Aufmerksam auf den Kuchler Löwen machte der Tennengauer Theologe und Historiker Michael Neureiter. Er verortet die Symbolik dieser Darstellung im Buch der Psalmen im Alten Testament (Psalm 22, 22: „Rette mich vor dem Rachen des Löwen!“) und im ersten Petrusbrief im Neuen Testament (1 Petr 5, 8 f.): „Euer
Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Leistet ihm Widerstand in der Kraft des Glaubens!“Dieser Widerstand könne von der Kanzel aus gestärkt werden, dem Ort der Verkündung, wie Neureiter ausführt, denn Gottes Wort bezwinge den Löwen/Teufel.
Dämonisch oder furchteinflößend wirkt der Löwe in Kuchl an sich nicht. Das unterscheidet ihn etwa vom romanischen Löwen im steirischen Stift Admont, der auch mit menschlicher Beute dargestellt ist.
Beim Kuchler Löwen hat der unbekannte Künstler den Tierkopf mit dem Kind so aus dem gesprenkelten Marmorstein herausgearbeitet, dass er sich vom restlichen Tierkörper heller abhebt. Ein meisterhafter Kunstgriff!
Der verwendete Adneter Scheck könne von Rot bis ins Bräunliche und Graue gehen, sagt Clemens Deisl, Geschäftsführer von Marmor Kiefer in Oberalm. „Der Scheck ist vor allem für figürliche Darstellungen verwendet worden, weil das Material so lebendig wirkt.“