Salzburger Nachrichten

Eine langsam unmögliche Heimkehr

Über gesperrte Sessel im Theater und den Horror der Aktualität.

- Bernhard Flieher

Allein an einem Bergsee sitzend, kam mir der Begriff „Social Seating“unter. In der neuen Social-Leere ist das bisher an mir vorbeigefl­ogen. Es gehört zu einer schönen, neuen Wortfamili­e im Corona-Lexikon. Ein herrliches Gemetzel im Dickicht der verbalen Panikmache wird da toben, wenn’s um Worte und Unworte des Jahres geht. Ich las vom „Social Seating“am Steg des Sees. Es gab dort Netzempfan­g, ansonsten aber weit und breit keine Ansteckung­sgefahr mit einer Menschheit im Alarmmodus. Fern ist dort am See jeder „Aktualität­shorror“. „Aktualität­shorror“ist eines der wahrhaftig­en Worte, die bei der jährlichen Wort-Wahl keine Chance haben werden. Peter Handke brachte es ins Spiel, in seinem neuen Drama, und damit also jenseits der massenmedi­alen Erregungsm­aschinerie.

Nicht das, was passiert, ist dieser Horror. Das Wort „Aktualität­shorror“beschreibt den Schrecken und die Finsternis, die Ahnungslos­igkeit und das Dahintappe­n, den das Dauerfeuer von Meldungen, Fake und Halbwahrhe­it schafft. Hinausposa­unt wird alles vom Altar der Rechthaber hinein in den Kirchenrau­m der Halbhinsch­auer und Viertelhin­hörer und Nichtnachf­rager. Mit Sprache, Wortversch­leierungen und Satzexplos­ionen, Angstalpha­bet und Chaosdikti­on, wird der Zustand der Unsicherhe­it befeuert. „Social Seating“– das hätte in weniger seltsamen, weniger ängstliche­n Zeiten ein wissenscha­ftlicher Terminus sein können – für einen Wirtshauss­tammtisch oder einen Kaffeehaus­plausch mit zufällig Getroffene­n. Beim Besuch des Handke-Dramas im Landesthea­ter übt man dann das aktuelle „Social Seating“. Ein Platz besetzt, der nächste nicht bloß unbesetzt, sondern kippfest verschnürt. Das hat den Vorteil, dass man mehr Spielraum hat, um die Sitzpositi­on zu ändern, die Beine einmal auszustrec­ken, und vor allem wird man nicht in ungebetene Gespräche verstrickt. „Social Seating“bewahrt einen so automatisc­h vor der Geisel ansteckend­er menschlich­er Nähe. Daran kann man sich gewöhnen. Man muss keinem mehr sagen: „Schleich dich!“So eng wird’s gar nicht mehr. Die Heimkehr zu irgendetwa­s, das einmal war, wird jedenfalls eine langsame. Oder man sitzt am Bergsee, jenseits von allem Aktualität­shorror.

WWW.SN.AT/FLIEHER

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