Eine langsam unmögliche Heimkehr
Über gesperrte Sessel im Theater und den Horror der Aktualität.
Allein an einem Bergsee sitzend, kam mir der Begriff „Social Seating“unter. In der neuen Social-Leere ist das bisher an mir vorbeigeflogen. Es gehört zu einer schönen, neuen Wortfamilie im Corona-Lexikon. Ein herrliches Gemetzel im Dickicht der verbalen Panikmache wird da toben, wenn’s um Worte und Unworte des Jahres geht. Ich las vom „Social Seating“am Steg des Sees. Es gab dort Netzempfang, ansonsten aber weit und breit keine Ansteckungsgefahr mit einer Menschheit im Alarmmodus. Fern ist dort am See jeder „Aktualitätshorror“. „Aktualitätshorror“ist eines der wahrhaftigen Worte, die bei der jährlichen Wort-Wahl keine Chance haben werden. Peter Handke brachte es ins Spiel, in seinem neuen Drama, und damit also jenseits der massenmedialen Erregungsmaschinerie.
Nicht das, was passiert, ist dieser Horror. Das Wort „Aktualitätshorror“beschreibt den Schrecken und die Finsternis, die Ahnungslosigkeit und das Dahintappen, den das Dauerfeuer von Meldungen, Fake und Halbwahrheit schafft. Hinausposaunt wird alles vom Altar der Rechthaber hinein in den Kirchenraum der Halbhinschauer und Viertelhinhörer und Nichtnachfrager. Mit Sprache, Wortverschleierungen und Satzexplosionen, Angstalphabet und Chaosdiktion, wird der Zustand der Unsicherheit befeuert. „Social Seating“– das hätte in weniger seltsamen, weniger ängstlichen Zeiten ein wissenschaftlicher Terminus sein können – für einen Wirtshausstammtisch oder einen Kaffeehausplausch mit zufällig Getroffenen. Beim Besuch des Handke-Dramas im Landestheater übt man dann das aktuelle „Social Seating“. Ein Platz besetzt, der nächste nicht bloß unbesetzt, sondern kippfest verschnürt. Das hat den Vorteil, dass man mehr Spielraum hat, um die Sitzposition zu ändern, die Beine einmal auszustrecken, und vor allem wird man nicht in ungebetene Gespräche verstrickt. „Social Seating“bewahrt einen so automatisch vor der Geisel ansteckender menschlicher Nähe. Daran kann man sich gewöhnen. Man muss keinem mehr sagen: „Schleich dich!“So eng wird’s gar nicht mehr. Die Heimkehr zu irgendetwas, das einmal war, wird jedenfalls eine langsame. Oder man sitzt am Bergsee, jenseits von allem Aktualitätshorror.
WWW.SN.AT/FLIEHER