Gusen, das „vergessene“KZ
Die Republik will Überreste des einstigen KZ Gusen ankaufen. Warum erst jetzt? Fest stehe: Auch 75 Jahre nach Kriegsende könne man diesen Ort der NS-Gewalt mit seinen 35.000 Toten nicht ignorieren, sagt Historiker Perz.
Das Haus, wo die SS einst Häftlinge folterte und umbrachte, ist längst eine Privatvilla mit Sonnenterrassen und Pool im Garten, der Appellplatz des KZ ein Firmengelände, der alte Steinbrecher eine Ruine: Der Historiker Bertrand Perz über den Umgang mit dem KZ Gusen seit 1945 – und die Zukunft des Areals.
SN: 75 Jahre nach Kriegsende soll in Gusen eine größere KZ-Gedenkstätte entstehen, historische Überreste angekauft werden. Warum erst jetzt? Bertrand Perz: Eine Gedenkstätte gibt’s ja schon. Die Frage ist, ob sie der historischen Bedeutung von Gusen angemessen ist. Das Lager war gleich groß wie Mauthausen, eigentlich war es ein Doppellager. Aber Mauthausen wird nach 1945 zur Gedenkstätte, Gusen nicht. Und da wird die Geschichte kompliziert.
SN: Gusen wurde quasi „vergessen“. Wie kam das?
In Gusen wurde schon ab 1938 – wie in Mauthausen – von der SS ein Steinbruch übernommen, ab Ende 1939 dort ein eigenes Lager errichtet. Es ging stets um ökonomische Ausbeutung und politische Repression – anfangs vor allem gegen die polnische Intelligenz und republikanische Spanier, später kamen andere Nationalitäten hinzu. Ab Mitte des Kriegs wurden die Häftlinge für die Rüstungsindustrie ausgebeutet. Steyr-Daimler-Puch errichtete eine Gewehrfabrik in Gusen, dann folgte die Flugzeugfirma Messerschmitt. Es gab also industrielle Infrastruktur dort. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Sowjets nach dem Krieg im Unterschied zu Mauthausen dort keine Gedenkstätte von der Republik verlangten, sondern den Steinbruchbetrieb weiterführten. Nach dem Staatsvertrag 1955 fiel das Lagergelände an die Republik. Man begann mit der Planung einer Siedlung auf dem KZGelände, das Industrieareal wurde weiterverkauft.
SN: Aus heutiger Sicht kommt einem das fast unglaublich vor: Rund um das Krematorium wurden Häuser errichtet, und auch diese letzten baulichen Überreste wollte man nach Mauthausen bringen. Warum?
Ja, das kommt uns heute relativ absurd vor, war es aber zur damaligen Zeit nicht. Dass man ein KZ in eine Freilichtgedenkstätte umwandelt, war nicht selbstverständlich – auch nicht in Mauthausen. Dort gab es Vorschläge der Nutzung als Spital oder als Ferienheim für Kinder. Konsens unter den Überlebenden war: Es braucht eine Gedenkstätte. Aber die Idee, es brauche dazu historische Überreste als Denkmal – das war nicht selbstverständlich. Und in Gusen hieß es nach 1955: Na ja, wir haben ja eh Mauthausen als Erinnerungsort.
SN: Ohne Druck aus dem
Ausland wäre nichts passiert? Nein. Die österreichische Nachkriegsgesellschaft hat diese Erinnerung mehrheitlich abgelehnt und sich selbst als Opfer des Kriegs gesehen. So wurde etwa wenige Jahre nach dem Krieg in Ebensee ein Gedenkstein für den KZ-Friedhof gesprengt, weil man es für schädlich für den Tourismus hielt.
SN: Absurd erscheint heute auch, dass die Überlebenden in Gusen das Grundstück, auf dem der Krematoriumsofen steht, in den 1960er-Jahren selbst gekauft haben und das Memorial bezahlt haben, die Erhaltungskosten ebenso.
Ja, aber das ist ganz typisch für die Zeit. Ausländische Überlebendenverbände adressierten ihre Denkmäler nicht an die österreichische Bevölkerung, man glaubte nicht, hier Erfolg zu haben. Es waren Erinnerungszeichen für ihre eigenen Gedenkfeiern.
Das erklärt uns auch, warum sie alles selbst finanzierten. Als die Überlebenden die Gedenkstätte in Gusen in den 1960er-Jahren errichten ließen, hätte das die Republik ja übernehmen können. Aber sie machte vor Ende der 1990er-Jahre dort nichts.
SN: Wann setzte die Bewusstseinsänderung ein?
Das begann in den 1970er-Jahren, in den 1980ern setzte eine intensivere Forschung ein. Auch war eine jüngere Generation an der eigenen Geschichte interessiert. Die Melker Schulklassen beispielsweise fuhren nach Mauthausen und plötzlich kam man drauf: Hoppla, eigentlich hatten wir auch in Melk ein KZ mit 15.000 Häftlingen. Mauthausen entwickelte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren von einem marginalisierten Ort zur wichtigen nationalen Gedenkstätte. In Gusen findet das eigentlich erst jetzt statt.
SN: Würde sich ohne den Druck aus dem Ausland – etwa aus Polen – auch jetzt nichts tun? Mein Eindruck war, dass die Politik bis vor Kurzem die Dimension von Gusen schlicht unterschätzt hat. Wenn die Polen nicht stetig gesagt hätten, das ist für uns ein zentrales Lager, da muss etwas passieren, dann wären wir jetzt nicht dort, wo wir sind. Da gab es natürlich Druck. Dass der polnische Premier bei einem Treffen mit der deutschen Kanzlerin Merkel im Dezember 2019 meinte, Polen werde die Grundstücke vor Ort selbst ankaufen, weil Österreich nichts tue, war wohl das Tüpfelchen auf dem i. Dann ging es plötzlich. Aber es ist auch ein Verdienst der Grünen in der Regierung, dass jetzt etwas weitergeht.
SN: Immer wieder sorgen Berichte für Aufsehen, dass es noch Tausende unentdeckte Tote im Stollensystem geben soll.
Was sagen Sie dazu?
Das tut mir als Historiker weh. Denn für mich fällt das unter „Histotainment“und Verschwörungstheorie. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Da ist null dran. Die Vorstellung, dass es in Gusen 18.000 unentdeckte Tote geben soll, die die Amis übersehen haben, die CSI-mäßig nach dem Krieg alles untersuchten, dass andere Häftlinge und Angehörige nichts davon wussten, das ist absurd.
SN: Was sagen Sie, wenn
Sie wer fragt, warum man überhaupt eine neue Gedenkstätte braucht, die Überreste aufkaufen soll?
Die Orte der NS-Gewalt verschwinden zusehends. In einer digitalisierten Welt interessieren sich heute viele für die realen Objekte, nicht für die Computeranimation. Der Erhalt ist aber auch als Beweiswert für jene nötig, die sagen, das hat ja alles gar nicht stattgefunden. Man kann die heutige Tendenz, alles erhalten zu wollen, auch problematisch finden. Aber bei einer Dimension von Gusen mit 35.000 Toten kann es darüber keine Diskussion geben. Das ist ein Gewaltort, den man auch 75 Jahre später nicht ignorieren kann. Die zweite, viel schwierigere Frage ist: Was tue ich mit dem Areal?
SN: Und was sollte man tun?
Die neue Gedenkstätte kann kein zweites Mauthausen werden. In der nach wie vor nicht öffentlich gemachten Machbarkeitsstudie finden sich aber kluge Vorschläge: von einer archäologischen Zone bis zur Begegnungszone.
Mein Argument ist, dass es jetzt in erster Linie einmal um Spurensicherung geht, damit nicht ein Gewerbepark auf die Flächen gebaut wird. Man sollte sich dann für das Konzept einer Gedenkstätte die nötige Zeit nehmen. Es ist ja noch einiges da: Der Appellplatz, zwei Häftlingsblöcke, zwei SS-Baracken, der Schotterbrecher, das Eingangsgebäude der SS – das so genannte Jourhaus, das bewohnt wird und mittlerweile mit Sonnenterrassen ausgestattet ist und im Garten einen Pool hat. Wenn die Republik das Jourhaus tatsächlich ankauft, würde ich eine Diskussion darüber fruchtbar finden, ob die Sonnenterrassen und der Pool nicht bleiben sollen. Die lange Nichtbeschäftigung mit dem Thema, die Nachkriegsgeschichte, das soll ja alles auch miteinbezogen werden. Wichtig ist, dass man die Gedenkstätte nicht von oben verordnet, sondern dass man die Menschen, die dort leben, einbezieht. Da braucht es eine breite und lange Diskussion. Es muss auch möglich sein, unterschiedliche Positionen zu haben. Das muss eine pluralistische Gesellschaft aushalten.
„18.000 unentdeckte Tote? Absurd.“