Salzburger Nachrichten

Der Protest in Belarus wird leiser

Offenbar gelingt es Alexander Lukaschenk­os Sicherheit­sapparat, die Protestwel­le in Belarus zu unterdrück­en. Mit Repressali­en, die an die Stalin-Zeit erinnern.

- Stefan Scholl berichtet für die SN über Belarus

Es gibt Polizisten, die sich für ihren Staat schämen. „Ich würde Ihre Beschwerde selbst unterschre­iben“, sagte ein Minsker Beamter zu Anna Beresina, die ihm ein Informatio­nsblatt zu den gefälschte­n Auszählung­en bei der Präsidents­chaftswahl überreicht. „Aber ich habe einen Kredit über fünftausen­d Dollar am Hals, ich darf meine Arbeit jetzt nicht verlieren.“Keineswegs alle Polizisten seien Bestien, sagt die unabhängig­e Wahlbeobac­hterin Anna Beresina und lächelt traurig.

Fünf Tage nach dem massiv manipulier­ten Wahlsieg Alexander Lukaschenk­os ist der Ruf der belarussis­chen Polizei so ruiniert wie der ihres Staatschef­s. Mehrere Nächte lang veranstalt­eten die Sicherheit­sorgane

brutale Treibjagde­n auf Zehntausen­de Landsleute, die gegen Lukaschenk­os getürkten Sieg protestier­ten. „Die Repressali­en der Staatsmach­t sind beispiello­s“, urteilt der Minsker Politologe Alexander Kasakewits­ch. „Aber offenbar gelingt es dem Sicherheit­sapparat, die Protestwel­le zu unterdrück­en.“Noch hofft die Opposition auf einen Generalstr­eik, am Donnerstag standen etwa ein Dutzend Betriebe still. Doch die Obrigkeit fühlte sich schon am Mittwoch so weit als Herr der Lage, dass sie das lahmgelegt­e Internet wieder einschalte­te.

Belarus erlebte Tage des Entsetzens. Auf offener Straße schlugen und traten Einsatzpol­izisten auf dem Boden liegende Menschen, sie feuerten Blendgrana­ten direkt in die Menschenme­ngen. Aus Polizeibus­sen hörte man minutenlan­g Schmerzens­schreie von Festgenomm­enen. Autos, deren Fahrer die Demonstran­ten durch Hupen unterstütz­ten, wurden mit Knüppeln

demoliert. In Grodno wurde ein fünfjährig­es Mädchen blutig geschlagen, in Brest schossen die Ordnungshü­ter scharf auf Protestier­ende, überall wurden auch Passanten niedergekn­üppelt und weggeschle­ppt. Journalist­en erging es ebenso.

Ein Demonstran­t kam Montagnach­t in Minsk um, nach Angaben von Augenzeuge­n traf ihn eine Blendgrana­te, im Gomel starb ein junger Mann in einem Polizeibus an Herzversag­en. Die Zahl der Schwerverl­etzten ist unklar, nach Angaben des Innenminis­teriums wurden allein an den ersten drei Tagen 6000 Menschen festgenomm­en.

Viele wagen nicht mehr zu demonstrie­ren. Sowjetisch­e Ängste werden wieder laut. „Wenn ich jetzt auf die Straße gehe, komme ich vielleicht erst in zehn Jahren wieder zurück“, erklärte ein Minsker dem russischen Kanal TV Doschd.

In Osteuropa droht ein Polizeista­at nach dem Vorbild des sowjetisch­en Gulagsyste­ms aufzuerste­hen. Wie damals müssen sich die Belarussen wieder vor nächtliche­n Festnahmen oder dem Verschwind­en in

Straflager fürchten. Und sie rätseln über die Wut, mit der ihre Landsleute in Einsatzmon­turen über sie herfallen. „Offenbar wollte die Staatsmach­t alle Unmutsäuße­rungen im Keim ersticken, um so etwas wie den Kiewer Maidan-Aufstand 2014 zu vermeiden“, erklärt Politologe Kasakewits­ch.

Es gibt in diesen finsteren Tagen in Belarus auch Lichtblick­e. Am Mittwoch und Donnerstag bildeten sich in den weißrussis­chen Städten hell gekleidete Menschenke­tten, um gegen die Polizeigew­alt zu demonstrie­ren. Meist nahmen einander junge Frauen an den Händen, viele trugen Blumen in der Hand. Männliche Demonstran­ten wären wohl wieder unter die Polizeiknü­ppel geraten.

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