In bester Verfassung?
Was unsere Verfassung kann – und was nicht. In Zeiten von Corona stellt sich die Frage, ob Maßnahmen verfassungswidrig sind, beinahe täglich. Vor 100 Jahren trat das Bundes-Verfassungsgesetz des „Jahrhundertjuristen“Hans Kelsen in Kraft. Eine Bilanz.
Wie gut ist unsere Bundesverfassung?
Vor hundert Jahren bekam die junge Republik Österreich eine Verfassung. In der Coronakrise zeigte
sich, dass es die Politik mit dem wichtigsten Gesetzeswerk nicht immer so genau nimmt.
Wie stark ist unsere Verfassung – und schützt sie die Republik auch vor autoritären „Führern“?
VVerfassungswidrig: Dieses Schlagwort war in den vergangenen Wochen so oft zu hören wie sonst nie. Und zwar immer dann, wenn neue Vorschriften im Kampf gegen das Coronavirus angekündigt wurden. Tatsächlich gab der Verfassungsgerichtshof (VfGH) im Juli den Kritikern teilweise recht: Da entschied das Höchstgericht, dass die von der Regierung im Eiltempo verordneten Ausgangsbeschränkungen im öffentlichen Raum gesetzwidrig waren – ebenso wie die Ungleichbehandlung von Geschäften beim Aufsperren nach dem Lockdown.
Die Diskussion um Corona, Maskenpflicht, Öffnungszeiten und mögliche Entschädigungen wird noch länger anhalten. Rund um die Bundesverfassung gibt es also just im hundertsten Jahr des Bestehens des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) täglich neue Diskussionen.
Da stellt sich die Frage: Ist das am 1. Oktober 1920 beschlossene B-VG aus der Feder des „Jahrhundertjuristen“Hans Kelsen heute noch ein taugliches Regelwerk?
Heinz Fischer, Bundespräsident a. D.: „Zum 100. Geburtstag muss man der österreichischen Verfassung alles in allem gratulieren. Ich bin sehr zufrieden damit.“
Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk: „Die Verfassung ist ein bisschen in die Jahre gekommen und sehr oft geändert worden. Zum Teil ist sie unübersichtlich geworden. Im Prinzip kommt man damit aber ganz gut aus.“
Politologe Anton Pelinka: „Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz 1920 ist die zweitälteste schriftliche, noch in Kraft befindliche Verfassung in Europa. Allein das spricht für ihre Qualität.“
Die Bundesverfassung war in den vergangenen hundert Jahren immer wieder Gegenstand heftiger politischer Debatten. Das Tauziehen zwischen den Parteien hatte schon begonnen, lange bevor das B-VG 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung in Wien beschlossen wurde. Staatskanzler Karl Renner hatte 1919 den Rechtsphilosophen und Staatsrechtler Hans Kelsen beauftragt, einen Entwurf auszuarbeiten. Und das war nicht einfach: Die Unabhängigkeitsbestrebungen der einzelnen Länder waren zu dieser Zeit schon relativ weit gediehen, wenn man nur an die Abstimmungen über den möglichen Anschluss von Vorarlberg an die Schweiz (1919) sowie von Tirol und Salzburg an Deutschland (1921) denkt. Was im Ringen um eine Verfassung letztlich herauskam, war ein Kompromiss zwischen der eher zentralistischen Sozialdemokratie und den föderalistischen Christlichsozialen.
Das 1920 beschlossene B-VG ist der Kern der gesamten Verfassung. Im Lauf der Jahrzehnte kamen immer neue Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen dazu.
Immer wieder gab und gibt es Debatten um eine Gesamtreform bzw. eine Föderalismusreform, zuletzt beim Österreich-Konvent ab 2003, der auf eine umfassende Verfassungsreform abzielte. Letztere kam aber nur bruchstückhaft – das wesentlichste Ergebnis war die Einrichtung der Landesverwaltungsgerichte.
Eine Garantie für den Erhalt der Demokratie war das B-VG zumindest in den ersten Jahren nicht. Das zeigte sich 1933/34, als die junge Republik unter Kanzler Engelbert Dollfuß in einen diktatorischen Ständestaat umgewandelt wurde, bevor Österreich 1938 von Hitler-Deutschland geschluckt wurde. Erst 1945 trat die Kelsen-Verfassung wieder in Kraft.
Und wie ist es heute? Schützen die vor hundert Jahren festgelegten Prinzipien – das demokratische, republikanische, bundesstaatliche und rechtsstaatliche Prinzip – unsere Demokratie? Bewahren sie uns heute vor dem möglichen Aufstieg eines autoritären „Führers“?
Politologe Pelinka betont, es gebe in der österreichischen Verfassung reichlich „Checks and Balances“. Diese würden eine „Diktatur der Mehrheit“verhindern. Und daran würde auch ein „starker Mann“scheitern – „solange der Verfassungsgerichtshof wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof über die unveräußerlichen Grundrechte von Personen und Gemeinschaften wachen“.
Rein theoretisch lässt die österreichische Verfassung aber auch „radikalste Veränderungen“zu. Das betont der Rechtshistoriker und Kelsen-Biograf Thomas Olechowski: In Deutschland könnten das föderalistische Prinzip und bestimmte Grundrechte nicht geändert werden. „Bei uns könnte man mittels Volksabstimmung den Bundesstaat und die Grundrechte abschaffen und verfassungskonform, wenn es das Volk will, die Diktatur oder den Kaiser wieder einführen. Es gibt keinen Kern in der Verfassung, der unverändert bleiben muss.“Olechowski betont aber auch, dass selbst eine Verfassung, die radikale Parteien verbietet und eine Diktatur dezidiert ausschließt, keine hundertprozentige Garantie sei. Und auch er verweist auf die kurze Geschichte der Ersten Republik: „Auch der Verfassungsgerichtshof konnte die Diktatur von Dollfuß nicht verhindern.“
Ähnlich sieht es Bernd-Christian Funk. Gesetze könnten missbraucht, geändert, deformiert oder gebrochen werden. Das gelte auch für die bestehende Verfassung. Und das würde für eine novellierte Verfassung ebenso gelten. „Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte politische Stabilität dadurch schaffen, dass man eine Verfassung neu schreibt. Das hat noch nie wirklich geholfen.“
Die in Verfassungen festgeschriebenen Grund- und Freiheitsrechte sind noch heute eine beliebte Zielscheibe von autoritären Politikern. Wie die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze ausgehebelt werden können, zeigt sich beim Blick auf die politischen Entwicklungen der letzten Jahre in Ungarn, wo die Regierung kritische Journalisten mundtot machen und den Rechtsstaat aushöhlen will. Oder in Polen, wo die Regierung die unabhängige Justiz auf Linie bringen will.
Eine solche „unbegrenzte Mehrheitsherrschaft“samt Aushöhlung der „Checks and Balances“sei tatsächlich eine Gefahr für freie Gesellschaften, betont Politologe Pelinka, ehemals Professor an der Central European University in Budapest. Die Bedrohung der unabhängigen Gerichtsbarkeit und der Freiheit der Medien sei „grundsätzlich niemals und nirgendwo auszuschließen“. Deshalb sei es nötig, „latent autoritäre Tendenzen“immer kritisch zu beobachten.
Dieses Problems war sich auch der „Architekt“der Bundesverfassung immer bewusst. „Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“, schrieb Hans Kelsen Anfang der 1930er-Jahre, als die Nationalsozialisten in Deutschland immer stärker wurden. „Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, dass sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss. Bleibt sie sich selbst treu, muss sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden.“
So labil wie in der Ersten Republik ist der demokratische Rechtsstaat nicht mehr. Die Zweite Republik ist jedenfalls „wehrhafter“als die Erste Republik – schon allein wegen des Verbotsgesetzes, das den „radikaldemokratischen Gedanken“eingrenze, sagt Verfassungsexperte Olechowski.
Und wie „wehrhaft“schätzt der ehemalige Nationalratspräsident und Bundespräsident die Zweite Republik ein? Verlassen könne man sich auf ein politisches System, wenn es eine gute Verfassung gebe und das rechtsstaatliche Prinzip gewährleistet sei, sagt Heinz Fischer, der aber auch die Politik in der Pflicht sieht: Es brauche zusätzlich zumindest „ein Minimum an politischer Kultur“.
Was wiederum zur Frage der umstrittenen, vom Höchstgericht aufgehobenen Coronamaßnahmen der Regierung führt. Bei der Ausarbeitung der ersten Verordnungen habe man die politische Kultur schon „gewissen Strapazen unterzogen“, sagt Fischer. „Dass man derart aufs Tempo gedrückt und keine Begutachtung gemacht hat und die Fristen so knapp waren – das tut einem Rechtsstaat nicht gut. Auch wenn ich eine Herzoperation unter größtem Zeitdruck mache, muss ich mir die Zeit nehmen, um die Operation lege artis durchzuführen.“Dennoch habe auch hier der Verfassungsgerichtshof für die nötige Kurskorrektur gesorgt. „So sehr das Höllentempo die parlamentarische Kultur strapaziert hat, so sehr hat die Judikatur es wieder ausgebessert.“
Die Regierung hat die politische Kultur gewissen
Strapazen unterzogen.
Heinz Fischer
Bundespräsident a. D.
Man könnte mittels Volksabstimmung den Kaiser wieder einführen.
Thomas Olechowski
Rechtshistoriker