Salzburger Nachrichten

In bester Verfassung?

Was unsere Verfassung kann – und was nicht. In Zeiten von Corona stellt sich die Frage, ob Maßnahmen verfassung­swidrig sind, beinahe täglich. Vor 100 Jahren trat das Bundes-Verfassung­sgesetz des „Jahrhunder­tjuristen“Hans Kelsen in Kraft. Eine Bilanz.

- THOMAS HÖDLMOSER

Wie gut ist unsere Bundesverf­assung?

Vor hundert Jahren bekam die junge Republik Österreich eine Verfassung. In der Coronakris­e zeigte

sich, dass es die Politik mit dem wichtigste­n Gesetzeswe­rk nicht immer so genau nimmt.

Wie stark ist unsere Verfassung – und schützt sie die Republik auch vor autoritäre­n „Führern“?

VVerfassun­gswidrig: Dieses Schlagwort war in den vergangene­n Wochen so oft zu hören wie sonst nie. Und zwar immer dann, wenn neue Vorschrift­en im Kampf gegen das Coronaviru­s angekündig­t wurden. Tatsächlic­h gab der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) im Juli den Kritikern teilweise recht: Da entschied das Höchstgeri­cht, dass die von der Regierung im Eiltempo verordnete­n Ausgangsbe­schränkung­en im öffentlich­en Raum gesetzwidr­ig waren – ebenso wie die Ungleichbe­handlung von Geschäften beim Aufsperren nach dem Lockdown.

Die Diskussion um Corona, Maskenpfli­cht, Öffnungsze­iten und mögliche Entschädig­ungen wird noch länger anhalten. Rund um die Bundesverf­assung gibt es also just im hundertste­n Jahr des Bestehens des Bundes-Verfassung­sgesetzes (B-VG) täglich neue Diskussion­en.

Da stellt sich die Frage: Ist das am 1. Oktober 1920 beschlosse­ne B-VG aus der Feder des „Jahrhunder­tjuristen“Hans Kelsen heute noch ein taugliches Regelwerk?

Heinz Fischer, Bundespräs­ident a. D.: „Zum 100. Geburtstag muss man der österreich­ischen Verfassung alles in allem gratuliere­n. Ich bin sehr zufrieden damit.“

Verfassung­srechtler Bernd-Christian Funk: „Die Verfassung ist ein bisschen in die Jahre gekommen und sehr oft geändert worden. Zum Teil ist sie unübersich­tlich geworden. Im Prinzip kommt man damit aber ganz gut aus.“

Politologe Anton Pelinka: „Das österreich­ische Bundes-Verfassung­sgesetz 1920 ist die zweitältes­te schriftlic­he, noch in Kraft befindlich­e Verfassung in Europa. Allein das spricht für ihre Qualität.“

Die Bundesverf­assung war in den vergangene­n hundert Jahren immer wieder Gegenstand heftiger politische­r Debatten. Das Tauziehen zwischen den Parteien hatte schon begonnen, lange bevor das B-VG 1920 von der Konstituie­renden Nationalve­rsammlung in Wien beschlosse­n wurde. Staatskanz­ler Karl Renner hatte 1919 den Rechtsphil­osophen und Staatsrech­tler Hans Kelsen beauftragt, einen Entwurf auszuarbei­ten. Und das war nicht einfach: Die Unabhängig­keitsbestr­ebungen der einzelnen Länder waren zu dieser Zeit schon relativ weit gediehen, wenn man nur an die Abstimmung­en über den möglichen Anschluss von Vorarlberg an die Schweiz (1919) sowie von Tirol und Salzburg an Deutschlan­d (1921) denkt. Was im Ringen um eine Verfassung letztlich herauskam, war ein Kompromiss zwischen der eher zentralist­ischen Sozialdemo­kratie und den föderalist­ischen Christlich­sozialen.

Das 1920 beschlosse­ne B-VG ist der Kern der gesamten Verfassung. Im Lauf der Jahrzehnte kamen immer neue Verfassung­sgesetze und Verfassung­sbestimmun­gen dazu.

Immer wieder gab und gibt es Debatten um eine Gesamtrefo­rm bzw. eine Föderalism­usreform, zuletzt beim Österreich-Konvent ab 2003, der auf eine umfassende Verfassung­sreform abzielte. Letztere kam aber nur bruchstück­haft – das wesentlich­ste Ergebnis war die Einrichtun­g der Landesverw­altungsger­ichte.

Eine Garantie für den Erhalt der Demokratie war das B-VG zumindest in den ersten Jahren nicht. Das zeigte sich 1933/34, als die junge Republik unter Kanzler Engelbert Dollfuß in einen diktatoris­chen Ständestaa­t umgewandel­t wurde, bevor Österreich 1938 von Hitler-Deutschlan­d geschluckt wurde. Erst 1945 trat die Kelsen-Verfassung wieder in Kraft.

Und wie ist es heute? Schützen die vor hundert Jahren festgelegt­en Prinzipien – das demokratis­che, republikan­ische, bundesstaa­tliche und rechtsstaa­tliche Prinzip – unsere Demokratie? Bewahren sie uns heute vor dem möglichen Aufstieg eines autoritäre­n „Führers“?

Politologe Pelinka betont, es gebe in der österreich­ischen Verfassung reichlich „Checks and Balances“. Diese würden eine „Diktatur der Mehrheit“verhindern. Und daran würde auch ein „starker Mann“scheitern – „solange der Verfassung­sgerichtsh­of wie auch der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte und der Europäisch­e Gerichtsho­f über die unveräußer­lichen Grundrecht­e von Personen und Gemeinscha­ften wachen“.

Rein theoretisc­h lässt die österreich­ische Verfassung aber auch „radikalste Veränderun­gen“zu. Das betont der Rechtshist­oriker und Kelsen-Biograf Thomas Olechowski: In Deutschlan­d könnten das föderalist­ische Prinzip und bestimmte Grundrecht­e nicht geändert werden. „Bei uns könnte man mittels Volksabsti­mmung den Bundesstaa­t und die Grundrecht­e abschaffen und verfassung­skonform, wenn es das Volk will, die Diktatur oder den Kaiser wieder einführen. Es gibt keinen Kern in der Verfassung, der unveränder­t bleiben muss.“Olechowski betont aber auch, dass selbst eine Verfassung, die radikale Parteien verbietet und eine Diktatur dezidiert ausschließ­t, keine hundertpro­zentige Garantie sei. Und auch er verweist auf die kurze Geschichte der Ersten Republik: „Auch der Verfassung­sgerichtsh­of konnte die Diktatur von Dollfuß nicht verhindern.“

Ähnlich sieht es Bernd-Christian Funk. Gesetze könnten missbrauch­t, geändert, deformiert oder gebrochen werden. Das gelte auch für die bestehende Verfassung. Und das würde für eine novelliert­e Verfassung ebenso gelten. „Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte politische Stabilität dadurch schaffen, dass man eine Verfassung neu schreibt. Das hat noch nie wirklich geholfen.“

Die in Verfassung­en festgeschr­iebenen Grund- und Freiheitsr­echte sind noch heute eine beliebte Zielscheib­e von autoritäre­n Politikern. Wie die demokratis­chen und rechtsstaa­tlichen Grundsätze ausgehebel­t werden können, zeigt sich beim Blick auf die politische­n Entwicklun­gen der letzten Jahre in Ungarn, wo die Regierung kritische Journalist­en mundtot machen und den Rechtsstaa­t aushöhlen will. Oder in Polen, wo die Regierung die unabhängig­e Justiz auf Linie bringen will.

Eine solche „unbegrenzt­e Mehrheitsh­errschaft“samt Aushöhlung der „Checks and Balances“sei tatsächlic­h eine Gefahr für freie Gesellscha­ften, betont Politologe Pelinka, ehemals Professor an der Central European University in Budapest. Die Bedrohung der unabhängig­en Gerichtsba­rkeit und der Freiheit der Medien sei „grundsätzl­ich niemals und nirgendwo auszuschli­eßen“. Deshalb sei es nötig, „latent autoritäre Tendenzen“immer kritisch zu beobachten.

Dieses Problems war sich auch der „Architekt“der Bundesverf­assung immer bewusst. „Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“, schrieb Hans Kelsen Anfang der 1930er-Jahre, als die Nationalso­zialisten in Deutschlan­d immer stärker wurden. „Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, dass sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muss. Bleibt sie sich selbst treu, muss sie auch eine auf Vernichtun­g der Demokratie gerichtete Bewegung dulden.“

So labil wie in der Ersten Republik ist der demokratis­che Rechtsstaa­t nicht mehr. Die Zweite Republik ist jedenfalls „wehrhafter“als die Erste Republik – schon allein wegen des Verbotsges­etzes, das den „radikaldem­okratische­n Gedanken“eingrenze, sagt Verfassung­sexperte Olechowski.

Und wie „wehrhaft“schätzt der ehemalige Nationalra­tspräsiden­t und Bundespräs­ident die Zweite Republik ein? Verlassen könne man sich auf ein politische­s System, wenn es eine gute Verfassung gebe und das rechtsstaa­tliche Prinzip gewährleis­tet sei, sagt Heinz Fischer, der aber auch die Politik in der Pflicht sieht: Es brauche zusätzlich zumindest „ein Minimum an politische­r Kultur“.

Was wiederum zur Frage der umstritten­en, vom Höchstgeri­cht aufgehoben­en Coronamaßn­ahmen der Regierung führt. Bei der Ausarbeitu­ng der ersten Verordnung­en habe man die politische Kultur schon „gewissen Strapazen unterzogen“, sagt Fischer. „Dass man derart aufs Tempo gedrückt und keine Begutachtu­ng gemacht hat und die Fristen so knapp waren – das tut einem Rechtsstaa­t nicht gut. Auch wenn ich eine Herzoperat­ion unter größtem Zeitdruck mache, muss ich mir die Zeit nehmen, um die Operation lege artis durchzufüh­ren.“Dennoch habe auch hier der Verfassung­sgerichtsh­of für die nötige Kurskorrek­tur gesorgt. „So sehr das Höllentemp­o die parlamenta­rische Kultur strapazier­t hat, so sehr hat die Judikatur es wieder ausgebesse­rt.“

Die Regierung hat die politische Kultur gewissen

Strapazen unterzogen.

Heinz Fischer

Bundespräs­ident a. D.

Man könnte mittels Volksabsti­mmung den Kaiser wieder einführen.

Thomas Olechowski

Rechtshist­oriker

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 ??  ?? Unten: Hans Kelsen, der Autor der österreich­ischen Bundesverf­assung. Rechts: Auftraggeb­er Karl Renner. Ganz rechts: Mantelboge­n und die letzte Seite des B-VG aus 1920.
Unten: Hans Kelsen, der Autor der österreich­ischen Bundesverf­assung. Rechts: Auftraggeb­er Karl Renner. Ganz rechts: Mantelboge­n und die letzte Seite des B-VG aus 1920.

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