Richtig reisen
Es geht nichts über gepflegte Vorurteile. Niemand ist frei davon, freier ist man aber jedenfalls, wenn man sich traut, die eine oder andere Zuschreibung auch wieder sein zu lassen. Über die eigenen Grenzen zu schauen könnte dabei helfen.
Da geistert gerade wieder der Begriff der „Südländer“herum, Staaten, die angeblich nicht so gut wirtschaften können und bei denen man aufpassen muss, dass EU-Hilfen nicht irgendwo „versickern“. Sieht so aus, als hätte es auch unser Kanzler nicht mit horizonterweiternden Reisen, unterwegs wäre er ja genug. Italien hatte das Pech, bei Corona ganz früh dabei zu sein. Und es hat jetzt die Nachrede, dass das Gesundheitssystem grundsätzlich marod sei, seine Finanzen sind es sowieso, dazu kommt noch die Mafia und, und … Interessant nur, dass unser als Urlaubsland geliebter Nachbar gleichzeitig zu den EU-Nettozahlern gehört, auch seine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte gehört wohl unbestritten zu den bemerkenswertesten der Welt.
Korruption? Finanzskandale? Kommen bei uns ja gar nicht vor, die Mattersburger Bank wollte bloß allen (natürlich auch besonders guten Freunden) helfen, HypoAlpe-Adria halten wir inzwischen schon wieder für ein Tourismuskonzept. Bei extremer Verhaberung zwischen Politik und Wirtschaft machen wir einfach einen Untersuchungsausschuss und empören uns über die jeweils anderen. Aber keine Sorge, die Italiener kränken wir ohnehin nicht besonders. Die meiste Zeit über nehmen sie Österreich gar nicht wahr. Der Lieblingsfeind heißt Deutschland. Was uns ja dann schon wieder (fast) mit ihnen verbindet.
Selbst wenn sie eine weit weniger kleinkarierte Außenpolitik machen, man mag „die Deutschen“nicht. Italiens Rechte hetzen gegen Merkel & Co., aufkaufen wollten sie alles, diktieren, wie sie es seit Hitler gewöhnt seien. Könnte freilich sein, dass Italien seine faschistische Kriegsvergangenheit viel weniger aufgearbeitet hat als diese „überkorrekten“Deutschen.
Und dann ihre Küche … gibt es überhaupt ein ordentliches deutsches Nationalgericht? Sauerbraten? Eisbein? Inzwischen ist es wohl eher Currywurst oder diese überfüllte Teigflade, die sie Pizza nennen. Da reagieren Deutsche (endlich einmal) demütig, loben Italiens Esskultur und Österreichs Wirtshäuser. Aber: Hat sich je einer von uns die Mühe gemacht, deutsche Regionalküchen schätzen zu lernen? Selten habe ich so köstlich gefrühstückt wie im Alt-Connewitz in Leipzig. Kaum einmal habe ich etwas Besseres aus Kräutern gegessen als Eldads original Frankfurter Grüne Sauce.
Wobei: Wenn ich in Chats auf Deutsche stoße, die ihre Nachricht mit „Hallöchen zusammen“beginnen, blitzt im Hirn ein automatisches „Sind die deppat“-Signal auf. Wird dann gefragt: „Wisst ihr, wo man in Sardinien gut essen gehen kann?“, muss ich mich ganz schnell verabschieden. Was bringt es, wenn ich so jemandem etwas über Inselgröße und Vielfalt erzähle? Wobei, die Sarden ihrerseits: Liegt irgendwo Abfall herum, dann glauben sie mit Vorliebe, er sei von den „stranieri“, den Fremden – Festlanditaliener sind übrigens mitgemeint. Sie haben ein ausgeklügeltes Mülltrennsystem, das auch noch streng kontrolliert wird. Könnte trotzdem sein, dass es überall Schweine gibt, sogar auf der schönsten Insel. Andersherum gedacht: Wie wäre es, wenn wir, nur so zur Übung, die vielen und guten Seiten unserer Nachbarn erforschten? Was für eine spannende Reise!