Salzburger Nachrichten

AUFSTAND

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Vierzig Jahre nach dem Solidarnoś­ć-Aufstand warnt der Gründer der Freiheitsb­ewegung, Lech Wałęsa.

ULRICH KRÖKEL

Werftarbei­ter, Vater von acht Kindern, antikommun­istischer Widerstand­skämpfer, Gründer der Freiheitsb­ewegung Solidarnoś­ć, Friedensno­belpreistr­äger und erster Präsident des postkommun­istischen Polens: Lech Wałęsa (76) kann auf ein reiches Leben zurückblic­ken. Im Gespräch mit den SN schaut er lieber nach vorn.

SN: Wie geht es Ihnen in Zeiten der Coronapand­emie?

Lech Wałęsa: Persönlich komme ich klar. Aber das Virus ist ein Warnschuss für uns alle: Beim nächsten Mal wird es schlimmer. Deshalb müssen wir uns den globalen Problemen endlich im globalen Maßstab stellen. Ich meine Krankheite­n, Hunger, Wassermang­el, Umweltzers­törung, Klimakatas­trophe. Wenn wir so weitermach­en, geht die Menschheit unter.

SN: Ist das für Sie nicht eine enttäusche­nde Bilanz, vierzig Jahre nach Gründung der Solidarnoś­ć, die ja eine Freiheitsb­ewegung war und eine bessere Welt wollte?

Es war eine Revolution. Wir haben die alte Ordnung überwunden. Es gibt aber noch keine zukunftswe­isende neue Ordnung. Wir brauchen eine gemeinsame Idee für die Menschheit. Welches Wirtschaft­ssystem wollen wir? Sicher nicht den Kommunismu­s, denn der ist vor aller Augen gescheiter­t. Aber der Kapitalism­us ist auch nicht die Lösung. Das ist ein Rattenrenn­en. Wer ist der Erste, wer holt am meisten heraus? Wir müssen diskutiere­n, wie sich der freie Markt effektiv zähmen lässt, zum Wohle der Menschen. Leider werden diese Diskussion­en heute oft von Populisten beherrscht, die sagen: Wir machen alles besser. Sie haben aber keine Lösungen für die realen Probleme. Stattdesse­n dämonisier­en sie alles.

SN: Beziehen Sie das auch auf Polen? In Warschau regiert seit fünf Jahren die rechtsnati­onale PiS.

Wir haben überall schwache Politiker, die sich viel zu oft der Vergangenh­eit zuwenden und mit alten Ideen für neue Zeiten kommen. Sie sind überforder­t von den nationalen und den globalen Herausford­erungen.

SN: Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Polen eingeleite­t, weil die Regierung die Unabhängig­keit der Justiz aushöhlt.

Sie tragen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Konstytucj­a“, also Verfassung. Warum?

Bei der Gründung der Solidarnoś­ć ging es 1980 im Kern um die Idee, die Herrschaft einer Partei durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen. Der Rechtsstaa­t ist die Grundlage für alles Weitere. In Polen und Europa gilt: Ohne die Herrschaft des Rechts werden wir unsere Zukunft zerstören.

SN: Ist Polen wieder auf dem Weg in eine Diktatur?

Nein. Mit dem EU-Beitritt vor 16 Jahren haben wir eine andere Wahl getroffen. Damals gab es das Angebot aus dem Westen: Kommt zu uns. Wir übernehmen gemeinsam Verantwort­ung für Europa. Wir helfen euch, etwas Neues aufzubauen. Dafür müsst ihr demokratis­che Regeln einhalten. Und dazu bekennt sich die überwältig­ende Mehrheit meiner Landsleute bis heute.

SN: Sie wollen lieber die Zukunft diskutiere­n als zurückzusc­hauen.

Am 14. August 1980 begann im polnischen Danzig der erste erfolgreic­he Aufstand gegen eine Ostblockdi­ktatur. Der Streik in der damaligen Leninwerft breitete sich über viele Teile des Landes aus und zwang das kommunisti­sche Regime zu Zugeständn­issen. Aus der Streikbewe­gung entstand die unabhängig­e Gewerkscha­ft Solidarnoś­ć, der zeitweise knapp zehn Millionen Polen angehörten.

An der Spitze des Aufstands stand der damals 37-jährige Lech Wałęsa. Der gelernte Elektriker war bis 1990 Vorsitzend­er der Solidarnoś­ć und von 1990 bis

1995 Präsident von Polen.

Aber gibt es nicht doch Lehren aus der Geschichte der Solidarnoś­ć, die hilfreich sein könnten?

In einer unübersich­tlichen Lage ist es immer das Wichtigste, einen klaren Kompass zu haben. Mich hat damals nur eine Frage geleitet: Wie können wir Gewalt und eine Tragödie vermeiden und unsere Ziele trotzdem erreichen? Das war das Spannungsf­eld, in dem wir gehandelt haben. Das System war damals noch sehr mächtig und auch bereit, diese Macht zu nutzen. Das hatten wir 1970 ja erlebt. Es wurde geschlagen, geschossen und gemordet. Die Botschaft war immer da: Ihr habt keine Chance, also versucht es erst gar nicht. Und nicht zuletzt standen da im Hintergrun­d Hunderttau­sende Sowjetsold­aten.

SN: Was war 1980 anders als 1970?

Johannes Paul II. hat eine riesige Rolle gespielt, unser polnischer Papst. Er wurde 1978 gewählt und kam 1979 zu einer Pilgerreis­e nach Polen. Die Menschen sind ihm in Massen gefolgt. Alle haben wir gehört, wie er sagte: „Dein Geist komme herab und ändere das Antlitz dieser Erde.“Damals haben wir zum ersten Mal gesehen, wie viele wir sind. Die Solidarnoś­ć hatte schon wenige Monate nach ihrer Gründung zehn Millionen Mitglieder. Das hat den Weg zum Sieg geebnet.

SN: Wie haben Sie den Papst persönlich erlebt?

Wir haben uns ein paar Mal getroffen. Unsere Gespräche waren sehr eigenartig, weil wir gar nicht viel sagen mussten. Wir haben uns ohne Worte verstanden. Er wusste, was ich denke, und ich wusste, was er dachte.

SN: Ihnen ist später vorgeworfe­n worden, als „IM Bolek“schon in den frühen 70er-Jahren mit der polnischen Stasi zusammenge­arbeitet zu haben. Es gibt Dokumente, die das belegen sollen. Wie blicken

Sie heute darauf?

Ich habe nie für die Stasi gearbeitet. Die Kommuniste­n haben uns damals ins Gefängnis geworfen und unter Druck gesetzt. Sie haben uns abgehört und mit diesem Material alles Mögliche angestellt. All das wird bis heute ausgenutzt, vor allem von Leuten, die nicht glauben wollen, dass ein einfacher Elektriker auf einer Werft, der ich ja war, das alles aus eigener Kraft erreichen konnte. Es gab in der Solidarnoś­ćOppositio­n viele kluge und gebildete Leute. Aber dann war da dieser Wałęsa, ein Arbeiter, der so viele Jahre an der Spitze der Bewegung stand und sie am Ende auch noch zum Sieg geführt hat. Das konnte nicht sein. Also musste ihm jemand geholfen haben. Und das musste dann natürlich die Stasi gewesen sein. Ich bin mit mir im Reinen.

SN: Sind Sie Optimist?

Ich bin Revolution­är, ein Mann der Tat. Derzeit ist die Welt an Populisten und Demagogen ausgeliefe­rt. Leider bin ich zu alt, um das, was jetzt zu tun wäre, auch noch zu erledigen.

SN: Was wäre denn zu tun?

Wir leben in einer Übergangsz­eit. 1990 ist eine Epoche untergegan­gen. Die neue Ordnung entsteht erst, und darüber sollten wir vor allem reden. Wie sollen unsere Länder, wie soll Europa, wie soll die Welt aussehen? Das müssen wir ausdiskuti­eren und dann klug handeln. Wir brauchen ein neues Fundament. Eine neue Solidaritä­t.

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